Renate Herre ist seit März 2012 verlegerische Geschäftsführerin bei Carlsen. Zuvor hatte Klaus Humann den Verlag geleitet. In seiner Ära sicherte sich Carlsen die Rechte an Harry Potter und Stephenie Meyer.

Hamburg. Der Carlsen Verlag ist nicht der FC Bayern München. Aber es wäre nicht überraschend, wenn sich Renate Herre in ihrem neuen Job ein bisschen wie ein sehr renommierter Fußballtrainer fühlen würde, der ein Team übernimmt, das unter dem Vorgänger gerade so ziemlich alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt. Klar, dass vom Neuen erwartet wird, dass er den Erfolg mindestens wiederholt, ihn besser noch verstetigt und das Ganze vielleicht sogar durch eigene Akzente spektakulär aufpeppt.

Renate Herre ist seit März 2012 verlegerische Geschäftsführerin bei Carlsen. Zuvor hatte Klaus Humann den Verlag 15 Jahre lang mit einem magischen Händchen geleitet. In seiner Ära sicherte sich Carlsen die deutschsprachigen Rechte an Harry Potter und Stephenie Meyers „Bis(s)“-Reihe, und es wurden ebenso japanische Manga wie Graphic Novels in Deutschland etabliert. Der Verlag ist in dieser Zeit rapide gewachsen: Der Jahresumsatz vervierfachte sich auf mehr als 53 Millionen Euro, die Zahl der Mitarbeiter verdreifachte sich fast auf 115.

„Keine Frage, das sind große Fußstapfen, die Klaus Humann hinterlassen hat“, sagt Renate Herre, weist aber auch sofort dezent darauf hin, dass der Erfolg nicht allein dem Teamchef, sondern einer Mannschaft zu verdanken ist. Der Mannschaft, die jetzt sie dabei unterstützt, das hohe Niveau zu halten – und darüber hinaus das digitale Geschäft profitabel zu machen. Klingt nicht einfach, scheint aber genau die Art von Herausforderung zu sein, die Renate Herre mag. Der neue Job ist Neuland für sie – passt also gut in eine Vita, die Routine meidet.

Herre hat 1988, nach ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Touristik, zunächst spielend Geld verdient – als Spiele-Redakteurin bei Ravensburger. Danach entwickelte sie im Großverlag innovative Produkte für Kleinkinder und später die nachhaltig erfolgreiche Sachbuchreihe „Wieso? Weshalb? Warum?“, war also dort angekommen, wohin sie wollte: bei Büchern. 2000 erhielt sie die erstmals bei Ravensburger geschaffene Stelle einer verlegerischen Geschäftsführerin und war verantwortlich dafür, dass der Marktführer im Kinder- und Jugendbuch über acht Jahre einen kontinuierlichen Umsatzzuwachs von insgesamt mehr als 30 Prozent erzielte. Für die Branche überraschend, kündigte sie 2009 bei Ravensburger, weil sie zu wenig Entwicklungspotenzial für sich sah. Einen neuen Job hatte sie nicht, vertraute aber auf ihre eigenen Ideen. Außerdem brauchte sie eine Auszeit und reiste allein durch Indien.

Es folgte schon bald ein Angebot des Verlegers Wolfgang Hölker aus Münster, der mit seinem Coppenrath Verlag und der Marke Die Spiegelburg Bestseller wie den Hasen Felix und die Prinzessin Lillifee produziert und einen bunten Strauß von Merchandising-Artikeln für Kinder und Erwachsene anbietet. „Dieser Zauberladen war eine wunderbare und erfüllende Chance für mich. Ich war von einer großen AG in eine kleine Kreativschmiede gewechselt. Als ich anfangs nach Budgets und Kostenstellen fragte, sagte Wolfgang Hölker mir: ‚So etwas haben wir nicht. Wenn wir an eine Idee glauben, machen wir das auch‘“, erzählt Renate Herre.

Die beflügelnde Erfahrung blieb ein Intermezzo von anderthalb Jahren. Denn als Carlsen bei ihr anfragte, konnte Herre nicht widerstehen: „Der Verlag hat eine besondere Strahlkraft. Die Vielfalt des Programms mit so bekannten Marken wie Pixi, Conni, Petzi, Tim und Struppi und Harry Potter ist einmalig. Und auch das Neben- und Miteinander von kommerziell erfolgreichen und literarisch ambitionierten Titeln gibt es nirgendwo anders. Bei Carlsen Verlegerin zu werden war für mich die Erfüllung eines Traums.“

Die Realität des Traums ist harte Arbeit. Denn Renate Herre soll unter anderem die richtigen Impulse dafür setzen, dass Carlsen auch im digitalen Geschäft zum großen Player wird – ohne genau zu wissen, wohin die Reise geht. Deshalb ist Carlsen bereits auf vielen Ebenen online aktiv: mit Apps und E-Books, Fan-Communitys und sogar einer digitalen Soap. Aber der Verlag wird sich künftig noch mehr vernetzen. Neuestes Projekt sind zwei eigenständige digitale Imprints im Verlag: Impress und Instant Books, die im August mit jeweils zehn Titeln für Jugendliche beziehungsweise erwachsene Leser starten. Monatlich sollen je fünf weitere folgen. Downloads der Texte kosten bis zu 4,99 Euro. Die Autoren kommen aus der Self-Publishing-Szene und haben zum Teil bereits reichlich Fans, mit denen sie in intensivem Austausch stehen. Carlsen verdient mit, hilft dafür beim Lektorat, bei der Gestaltung und beim Marketing – und erhält Zugang zu neuen Communitys und entdeckt vielleicht sogar talentierte Autoren fürs klassische Print-Programm.

„Es ist offensichtlich, dass die Chancen für uns im digitalen Bereich größer sind als die Risiken“, sagt Renate Herre. „Ich sehe eigentlich nur ein echtes Risiko: Dass es noch kein Geschäftsmodell gibt, mit dem richtig Geld verdient wird. Dagegen stehen kontinuierliche Investitionskosten. Andererseits eröffnet uns das Netz völlig neue Wege in der Vermarktung und ganz andere Möglichkeiten auf der kommunikativen Ebene mit Autoren und Lesern. Wichtig ist, dass wir immer wieder Neues ausprobieren und den ganzen Verlag mitnehmen, um den digitalen Anforderungen gerecht zu werden.“

Keinen Zweifel hat Herre daran, dass das gedruckte Buch überleben wird. „Manches wird sich zumindest teilweise ersetzen lassen, Taschenbücher zum Beispiel. Anderes nicht. Ich selbst nutze E-Reader zum Lesen von Manuskripten und auf Reisen. Ansonsten bevorzuge ich das materielle Buch, nicht zuletzt wegen der Haptik.“ Ihr Mann war da im vergangenen Jahr anderer Meinung. Beim zweiten Umzug auf den Spuren seiner Frau bemerkte er angesichts der Bücherkisten ketzerisch: „Ich bin für das digitale Bücherregal.“ Prompte Antwort seiner Frau: „Das wirst du nicht erleben.“ Ein Umzug sei ja vorerst kein Thema mehr. Renate Herre scheint angekommen zu sein.