Vor 100 Jahren war Westerland schon ein mondänes Seebad. Obwohl man sich in züchtig bekleidet in die Fluten stürzte, war das Badevergnügen nicht über jeden Zweifel erhaben. Historische Fotos lassen diese Ära aufleben.
Hamburg. Von morgens um sechs bis mittags um zwei Uhr war Herren, so verrät es die Aufschrift eines Warnschildes, der Zutritt strikt untersagt, dann blieb dieser Strandabschnitt den Damen vorbehalten. Nicht dass diese sich etwa knapp oder gar – Gott behüte! – unbekleidet in die Fluten der Nordsee gestürzt hätten, solche Freizügigkeit war im wilhelminischen Deutschland nicht einmal denkbar. Trotzdem barg allein der Anblick einer sich zum Bade begebenden Frau damals ein enormes Erregungspotenzial. Eine Sylt-Postkarte aus jener Zeit zeigt das erwähnte Verbotsschild und einen Mann, der die damit markierte Grenze zwar nicht überschreitet, aber den Blick dorthin schweifen lässt. „Auf verbot’nen Wegen“ heißt der Kommentar auf der Karte, dessen humoriger und dabei leicht anzüglicher Duktus typisch fürs frühe 20. Jahrhundert ist.
Dieses Motiv findet sich in der von Werner Bokelberg veröffentlichten Box, die unter dem Titel „Unser Sylt vor 100 Jahren!“ die Reprints von 48 historischen Bildpostkarten enthält. Die Bildersammlung, die der Hamburger Fotograf und Sammler zusammengetragen hat, dokumentiert die erste große Blütezeit, die der Fremdenverkehr auf Sylt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt hat. Die Freuden der Sommerfrische auf der zuvor nur von Fischern, Bauern und Handwerkern bewohnten Insel konnten sich damals nur Angehörige des gehobenen Bürgertums oder des Adels leisten. Und so sahen die Kuranlagen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunächst vor allem in Westerland entstanden sind, auch aus: Stilvolle Pensionen und mondäne Hotels bieten Terrassen, von denen man den Blick über den Strand aufs Meer schweifen lässt, auch wenn sich eine große Zahl der Gäste wohl davor scheut, sich selbst in die Fluten zu stürzen.
Aber der Badeaufenthalt bietet auch sonst viel Zerstreuung – beim Sehen und Gesehenwerden auf den Promenaden, der Plauderei beim Kurkonzert oder gar dem Flirt in einem der schicken Cafés. Am Strand stehen die Badehäuser, die Umkleideräume und private Refugien inmitten der Öffentlichkeit sind. In langen Kleidern und mit ausladenden Hüten ruhen die Damen auf Liegestühlen und betrachten die Mutigen, die sich tatsächlich dem kühlen Nass aussetzen.
Dass es hier keine reinen Damen- und Herrenstrände mehr gab, war eine unerhörte Neuerung, zu der sich die Westerländer Kurverwaltung 1902 mit der Aufhebung der strikten Geschlechterordnung durchgerungen hatte – übrigens als erster deutscher Badeort. Überhaupt erwies sich die Entwicklung, die Sylt in jener Zeit nahm, als geradezu atemberaubend. Im Begleittext der Box kommt der Journalist und Schriftsteller Julius Rodenberg (1831–1914) zu Wort, der Sylt als junger Mann besucht hatte und reichlich enttäuscht war. Das Badeleben fand er monoton, so kam er zu dem wenig schmeichelhaften Urteil: „Nein, ein Modebad ist Westerland nicht und wird es auch schwerlich werden.“ Mit der Prognose lag Rodenberg, wie wir wissen, ziemlich daneben, denn schon bald gaben sich Prominente, Künstler und Adelige hier die Klinke in die Hand. Im Gästeverzeichnis tauchen Anfang des 20. Jahrhunderts Namen wie die Schriftsteller Stefan Zweig und Thomas Mann auf, der Tenor Richard Tauber und die Tänzerin Gret Palucca oder die rumänische Königin Elisabeth. Und die Prominenz ist der Insel auch nach dem Zweiten Weltkrieg treu geblieben, als Gunter Sachs mit seiner damaligen Frau Brigitte Bardot auf Sylt wilde Partys feierte. Doch da trug man, wenn man überhaupt etwas trug, schon ganz andere Bademode, als sie auf den nostalgischen Bildern dieser wunderbaren Postkartenbox zu finden ist.
„Unser Sylt vor 100 Jahren“. 19,90 €,
im Buchhandel erhältlich