Zum Tode eines klassisch Gelehrten: Walter Jens prägte das Nachkriegsdeutschland als Wissenschaftler und öffentliche Stimme. Jens wuchs in Eppendorf auf.
Hamburg. Walter Jens war als Schriftsteller, Altphilologe, Übersetzer und Kritiker über Jahrzehnte republikweit eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen in der öffentlichen Debatte. Er war der Repräsentant eines Zeitalters, in dem die Geisteswissenschaft einen anderen Stellenwert hatte als heute. Und er war, obwohl er die weitaus längste Zeit seines Lebens in Süddeutschland lebte, seiner Geburtsstadt Hamburg eng verbunden.
In seinem Familienhaus in Tübingen hingen Stiche des alten Hamburgs, der Stadt, in der er 1923 geboren wurde: als Sohn eines Bankdirektors und einer Lehrerin. Mit seiner Ehefrau, der Publizistin Inge Jens, teilte Walter Jens nicht nur die Leidenschaft für die Literatur, sondern auch die Liebe für die Heimat. Inge Jens, geborene Puttfarcken, stammte ebenfalls aus Hamburg.
Über die Hamburger Jahre des Walter Jens, der wie Günter Grass als kritischer und streitbarer Geist das demokratische Leben der Bundesrepublik befeuerte, ist einiges bekannt. Er wuchs in Eppendorf auf. Ab 1929 besuchte er die Schule in der Breitenfelder Straße. Von 1933 bis zum Abitur 1941 war er Schüler der Gelehrtenschule des Johanneums. Seinen Abituraufsatz schrieb er unter dem Titel „Heinrich gewinnt das Reich“ über den Gang nach Canossa anhand eines Dramas von Erwin Guido Kolbenheyer.
Er studierte Germanistik und Klassische Philologie, zunächst in Hamburg, dann in Freiburg. Danach promovierte er über Sophokles, später habilitierte er sich mit dem Thema „Tacitus und die Freiheit“. Als wissenschaftlicher Assistent arbeitete Jens zunächst auch wieder in seiner Geburtsstadt, ehe er ganz nach Tübingen übersiedelte, wo er an der Eberhard-Karls-Universität lehrte.
Von dort aus etablierte er sich schnell im literarischen Feld der jungen Bundesrepublik. Er war ein klassisch Gebildeter, der gleichzeitig fest in der Gegenwart verankert war und von ihr aus agierte. 1950 erschien sein Roman „Nein. Die Welt des Angeklagten“, mit dem Jens seinen Durchbruch als Erzähler schaffte. Als Kritiker war er gefürchtet, er zählte zu den Einflussreichsten seiner Profession in der Gruppe 47, seinerzeit die maßgebliche literarische Instanz. Ab 1963 hatte Jens über ein Vierteljahrhundert den ersten Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik an einer deutschen Universität inne.
Außerdem war er Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik. Jens wurde Ehrung um Ehrung zuteil (unter anderem wurde ihm 1968 der Lessing-Preis der Stadt Hamburg zuerkannt), er schrieb auch nach seiner Emeritierung weiter: zum Beispiel zusammen mit seiner Frau Inge die viel gelobte Biografie über die Nobelpreisträgergattin „Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim“. Als politischer Kopf, der sich zu den drängenden Problemen der Gesellschaft zu Wort meldete, wurde er stets wahrgenommen. Nach dem 11. September kritisierte er George W. Bush für seine Anti-Terror-Politik.
Umso irritierender war dann der Bruch im öffentlichen Ansehen. Wie später Grass wurde Walter Jens von seiner Vergangenheit eingeholt. Der gläubige Christ und eminent politische Mensch, der gegen die Nachrüstung der Bundesrepublik demonstrierte, hatte seine Mitgliedschaft in der NSDAP jahrzehntelang verschwiegen.
An das Regime biederte er sich zumindest zeitweise an, indem er Vorträge über „entartete Literatur“ hielt. Enthüllt wurde seine Verstrickung im „Germanistenlexikon“ – ausgerechnet 2003, dem Jahr, in dem sich erste Symptome einer Demenz-Krankheit bei Jens zeigten. Tilman Jens setzte sich in zwei Büchern aufmerksamkeitserregend mit seinem Vater auseinander.
Die Beziehungen nach Hamburg waren vielfältig – und sie förderten auch manch überraschende Verbindung zutage: Am Montag kondolierte der Eimsbütteler TV auf seiner Homepage. Der 1889 gegründete Verein zog mit seiner Fußballmannschaft den jungen Jens wie magisch an. Später war er Torwart in einer Freiburger Studentenmannschaft, zu Hamburger Zeiten pilgerte er nach Eimsbüttel. Und hielt dem Verein die Treue, im WM-Jahr 1974 schrieb Walter Jens ein besonders für Hamburger Ohren charmantes Essay in der „Zeit“, in dem er auf seine Hamburger Vergangenheit Bezug nahm und von den großen Zeiten des ETV schwärmte.
„Wir schauten beim Training zu, fuhren mit der Mannschaft bis nach Wilhelmsburg. Ereignisse wie der legendäre 3:2-Erfolg über Schalke, errungen im Volksparkstadion, blieben Gesprächsstoff über Jahre hinweg“, schrieb Jens. Schon damals – doch wohl noch in der Zeit vor der großen Kommerzialisierung des Sports – dachte Jens melancholisch über die Zeitläufte.
Nostalgie, die nicht nur Fußball meinte: „Die Heroen, zu denen ich aufsah, waren Gemüsehändler (Nationalspieler Hans Rohde, ein- und ausgehend im elterlichen Geschäft), Eisverkäufer (Herbert Panse, Nationalspieler auch er, beim Füllen der Tüten: Sonntag geht der HSV baden), Lehrer (wie Otto Lüdeke, der die Ehre hatte, in einer sogenannten Akademiker-Mannschaft spielen zu dürfen – einmal sogar gegen den eigenen Verein: Das ist doch Otto, sagte Schindowski zu Kleikamp, als der, irritiert durch den fremden Dreß, seinen Freund und Nebenspieler in die Zange nahm) Angestellte (Rohwedder, ebenso schußgewaltig wie launisch, mit der Aktentasche unter dem Arm), Mechaniker, Maurer und Dreher. Die meisten waren Eimsbütteler Kinder; man kannte sie aus der Jugendmannschaft, hatte ihnen zugeschaut, Sonntagmorgen in der Hoheluftchaussee oder auf einem Grandplatz, mal Martinistraße, mal Weidenallee; ein Vereinswechsel war selten; wenn Derle Ahlers aus Harburg oder Erni Timm (der Eisenhärte, früher bei Union) aus Altona kamen, waren das nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigten.“
1980 wäre Jens beinah nach Hamburg zurückgekehrt, als Teile des SPD-geführten Senats und der Universität planten, den berühmten Geisteswissenschaftler und Linksintellektuellen Jens ohne Ausschreibung auf einen neu zu schaffenden Lehrstuhl zu berufen. Die konservative Opposition (mit der „Welt“ als publizistischem Sprachrohr) machte damals Front gegen die Personalie Jens, die sogar in einer Aktuellen Stunde in der Bürgerschaft verhandelt wurde. Am Ende verzichtete Jens von sich aus auf eine Rückkehr nach Hamburg. Der Mann, der sich einmal als „bürgerlichen Radikaldemokraten“ bezeichnete, wurde von Tübingen aus zu einem wichtigen Mitglied der Friedensbewegung. Im Jahr 1991 versteckte er US-Soldaten, die während des ersten Golfkrieges desertiert waren – und sah sich danach mit einem Prozess wegen Beihilfe zur Fahnenflucht konfrontiert.
Am Sonntag ist der Geistesmensch Walter Jens 90-jährig nach langer Krankheit in Tübingen gestorben.