Ralph Giordano feiert seinen 90. Geburtstag. Im Abendblatt schreibt der moralische Mahner exklusiv, wie er zu dem geworden ist, was er ist.

Hamburg-Barmbek, Hufnerstraße. Rückkehr vom Elbestrand mit den Eltern an einem warmen Sommerabend 1933. Vorm Haus 113 sind Vater und Mutter im Gespräch mit Nachbarn. Plötzlich ein markerschütternder Schrei, aus meinem Mund - ich bin gebissen worden, in die rechte Hand! Den kleinen Finger heftig hin und her schlenkernd, starre ich stumm auf die Attentäterin - "die Rote"! So gerufen, weil sie stets von einer roten Schleife gekrönt war, wie ich zehn Jahre alt, und nun tränenüberströmt (während sich die Fläche unter meinem Nagel vom Biss der Perlzähnchen rasch dunkelverfärbt). Da ist auch schon meine Mutter bei mir, aufgelöst, als sei ich aus dem vierten Stock gefallen, und fährt die Weinende verstört an: "Warum, um Himmels Willen, hast du ihn gebissen?" Daraufhin ein schriller Aufschrei: "Wenn ich ihn doch so lieb habe!" und gleich hinterher, in das aufbrausende Gelächter, tiefe, tiefe Schluchzer.

Ich erstarre.

Schließlich von den Eltern wie ein Schwerverwundeter hochgeleitet, warte ich auf die Gelegenheit, unbeobachtet auf den Balkon zu schleichen und von dort aus noch einmal einen Blick auf "die Rote" zu werfen - meine wundervolle Peinigerin, das schönste Mädchen der Straße, nein, des ganzen Viertels. "Wenn ich ihn doch so lieb habe ..." Davon kann man ein ganzes Leben zehren.

Zwei Jahre später, Sommer 1935, in den großen Ferien, vormittags. Ich eile auf die Straße, wie immer weit geöffnet für alles, was mir dort begegnen würde - das Licht, die Geräusche, die vertrauten Gesichter der Spielgefährten von Kind auf an.

Da kommen mir auch schon drei von ihnen entgegen, in einem Blockwagen, vorneweg an der Deichsel Heinemann, mein "bester Freund", wie ich ihn nennen darf. Nachbarssohn aus der kinderreichen, gerade mit dem staatlichen "Mutterkreuz" ausgezeichneten Familie in der Etage über uns, ein legendärer, nie erwischter Berufsdieb. Dem ich ergeben bin bis in die kopflose Bereitschaft, um seiner Achtung Willen ebenfalls zum Kleptomanen zu werden, und das mit dem Risiko, von der Gelehrtenschule des Johanneums zu fliegen.

So sah es zwischen uns beiden aus - bis zu diesem Sommermorgen. Denn nun stoppte Heinemann den Wagen, mit einem seltsam fremden Zug im Gesicht, und krähte dann: "Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!" Das letzte Wort lauter, als sollte es von möglichst vielen gehört werden. Dann sausen die drei mit dem Blockwagen johlend davon. Seit damals sind achtzig Jahre vergangen, aber während ich dies niederschreibe, läuft mir immer noch ein Schauder nach dem andern kalt den Rücken herunter.

Es war wie eine Hinrichtung. Ich konnte mich nicht rühren, nicht antworten, kaum atmen. Die Welt blieb einfach stehen, mit einem Ruck, der mich ins Nichts beförderte. Ich bin nie ganz daraus hervorgekommen, ein Teil von mir ist darin geblieben. Obwohl heute eher um meine Freundschaft geworben wird und ich Nähe oder Distanz selbst souverän bestimmen kann, ist die Furcht vor Liebesverlust nicht überwunden, und wird nie überwunden sein. Wie so vieles andere nicht. Zuneigung und Biss, zwei frühe Erinnerungen.

Manchmal scheint mir, als habe sich mein ganzes Dasein zwischen diesen beiden Polen zugetragen.

Die Sorge meiner späten Tage? Israel

Was mich adrenalisiert, ist die grenzenlos einseitige Schuldzuweisung an Israel durch weite Teile der hiesigen öffentlichen und veröffentlichten Meinung! Wollen ungefährdete Deutsche tatsächlich allen Ernstes die Israelis besserwisserisch belehren, wie Staat und Regierung ihre Bürgerinnen und Bürger vor den Mordanschlägen von Hamas, Dschihad und Hisbollah schützen können? Hier ist die Rede von einem Land, in dem jedermann jederzeit überall verletzt oder getötet werden kann, und das seit Jahrzehnten. Was, wenn Deutschland in solche Situation geriete? Panik, Chaos, Rufe nach dem starken Mann, nach der Todesstrafe! Und die Demokratie? Hier versagt meine Fantasie ...

Nein, nicht der kleine Judenstaat wird es sein, von dem aus die großen Schatten über das 21. Jahrhundert fallen werden. Fallen werden sie aus der Hemisphäre von 22 arabischen Ländern, die 50-mal mehr Menschen zählen als Israel, 800-mal mehr Bodenfläche haben, vor allem aber die größten Anpassungsschwierigkeiten beim Anschluss an die Moderne, ohne je die Ursachen dafür bei sich selbst zu suchen.

Bedrohlicher als alle anderen aber: Irans Mullah-Theokratie. Den notorischen Israel-Anklägern in den Redaktionsstuben und Chefetagen der deutschen Print- und TV-Medien, die ich hier anspreche und angreife, rate ich, sich mit dieser aus einem Weltärgernis längst zu einer Weltbedrohung mutierten Gefahr intensiver als bisher zu beschäftigen. Steht doch nirgends geschrieben, dass Deutschland ein weißer Fleck auf der Landkarte des islamistischen Terrors bleiben wird. Natürlich steht Israel in dieser Auseinandersetzung nicht unter kritischem Naturschutz, natürlich gilt auch für den Judenstaat die Charta der Menschenrechte!

Womit ich bei meinem Credo angekommen bin, dem Innersten meiner moralischen Existenz überhaupt: dem Konflikt zwischen meiner Liebe zu Israel und der Unteilbarkeit der Humanitas. Die Spannung besteht in der dauernden Versuchung, die eigene Ehrlichkeit dranzugeben und zu unterschlagen, was der Liebende gern verschwiegen hätte (Siedlungspolitik, Folter in der Armee, Korruption, Massenelend). Förderte die Kritik nicht Vorurteile, Hass und Feindschaft? Ja, und trotzdem ist die ungeteilte Humanitas die Lex Israelica, ihre unverrückbare Charta. Ein Freibrief für falsche Bundesgenossen, mir auf die Schulter zu klopfen, ist das aber nicht. Ich akzeptiere niemandes Kritik an Israel, der mir nicht nachgewiesen hat, dass auch für ihn, für seine Sache, die Humanitas unteilbar ist. Israel ...

Mit diesem hochgefährdeten Land fühle ich mich unlösbar verbunden, eine Ankettung, die unabhängig ist von den Maßnahmen abwählbarer Regierungen. Die Liebe zu ihm ist die Hülle meiner Kritik an ihm, ihm gehört all meine Bewunderung und so manches noch, was mir im Halse stecken bleibt, wenn ich es sagen möchte und nicht kann, weil es mir die Sprache verschlägt. Ich bin überzeugt von der Kraft dieses Landes, ich baue auf seine Fantasie, seine Kreativität, seine gewaltige Vitalität und seine Überlebensfähigkeit. Daneben aber hockt in mir, unverbannbar, mit bleibender Unruhe und unausrottbarer Sorge, jene jüdische Angst, die mich, fürchte ich, bis an mein Ende begleiten wird und einem meiner Bücher den Titel "Israel, um Himmels Willen, Israel" verliehen hat.

Ich habe überlebt

Zeit, sich eigene Irrtümer und Fehlentscheidungen einzugestehen. August 1944, Johannisbollwerk, "Rassengestapo", Dependance der Gestapoleitstelle Hamburg. Ich bin 21 und habe nach langem Warten gerade unter den wachsamen Augen zweier wie sprachblockierter Männer gerade ein Papier unterzeichnet: Verkehr mit "arischen" Frauen und Mädchen zöge "staatspolizeiliche Maßnahmen" nach sich. Keine Erklärung, kein Wort, keine Silbe. Dann gehen sie hinaus. Bin ich entlassen? Da kommen sie auch schon zurück und beginnen, mich zu verprügeln, vollkommen emotionslos, aber nicht länger stumm. Während sie routinemäßig auf mich eindreschen, unterhalten sich die beiden nun lebhaft: über Tomaten einer besonderen Sorte, die sie in dieser Zeit des Mangels auf ihren Balkons angepflanzt haben und dort erfolgreich hegen und pflegen, mit welchem Dünger und mit wie viel Wasser. Und während mir unter den präzisen Schlägen der beiden Ungeheuer delirierend das Bewusstsein wegschmilzt, taucht vor meinem inneren Auge in greller Schrift ein Satz auf, der mich nicht mehr verlassen wird, ein Wunsch von kosmischen Ausmaßen, ein elementarer Schrei: "Wärst du doch nie geboren worden, nie geboren, nie."

Ich habe überlebt, diese und andere Torturen, war aber nicht mehr derselbe. Da hatte sich etwas selbstständig gemacht, ein Schwur, der sich eingestanzt hatte in Herz und Hirn, in die Blutbahn, in den Tag und in die Nacht, eine kategorische Schlussfolgerung: "In diese Welt setzt du keine Kinder, dieser Welt setzt du niemanden aus. Wer sagt dir denn, dass sie nicht Ähnliches erleben werden wie du, oder gar noch Schlimmeres? Und dich nicht verfluchen werden, weil sie geboren worden sind?"

Mir war, als würde ich damit ein Verbrechen verhindern, etwas, das in meine Hand gegeben war, eine im wahrsten Sinne des Wortes tief eingebläute Überzeugung, die lange, sehr lange keinen Zweifel an sich heranließ, was das einzig wahre Glück wäre: "Wärest du doch nie geboren worden, nie geboren, nie."

Heute erschrecke ich über diese Schlussfolgerung, heute weiß ich, dass die Lehre, die ich aus dem Menschen-Bashing vom August 1944 und dem ganzen zwölfjährigen "Ambiente" gezogen habe, falsch war. Heute weiß ich, dass von allen Verbrechen, die die Nazis mir angetan haben, das größte war: mich zur Verweigerung eigener Kinder verleitet, mich um den Mut zu eigenen Kindern gebracht zu haben. Das ist von all ihren Verbrechen das größte.

Und ich musste alt, sehr alt werden, um es zu erkennen und zu bekennen.

In Filmen vor dem 9. September 2001 sieht man die Twin Towers in den Himmel über New York ragen. Der Anblick ist jedesmal weder ein Stich ins Herz. Und das wird so bleiben, da kann ich noch so alt werden.

Die Tränen kommen früher als sonst, viel früher.