Ein Gespräch über jüdische Identität der Gegenwart mit Hamburgs Landesrabbiner und Sonja Lahnstein-Kandel.

Hamburg. Was wissen wir eigentlich über das Judentum? Gibt es ein spezifisch europäisches Judentum? Denkt, wer an Juden denkt, heute hauptsächlich an den Holocaust? Oder an Israel, jenen Staat, zu dessen acht Millionen Einwohnern 20 Prozent Araber gehören? Entlarvt die jüngste Debatte um Jakob Augstein, der ultra-orthodoxe Juden mit islamistischen Fundamentalisten gleichgesetzt hatte, mehr über Antisemitismus in Deutschland, als uns bewusst war? "Jüdische Identität in Europa - zwischen Anpassung und Selbstfindung" heißt die zweite Diskussion der Dialogreihe "Bridging the Gap", die am Sonntag, mitveranstaltet vom Verein des Israel-Museums, im Thalia Theater stattfinden wird.

Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, ein orthodoxer Vertreter des Judentums, wird an der Diskussion teilnehmen, Sonja Lahnstein-Kandel, die sich den säkularen Juden zurechnet, übernimmt die Moderation.

Wir treffen uns im Gemeindezentrum am Grindel. Bistritzky, der seit zehn Jahren in Hamburg lebt, um den Juden in der Diaspora "ihr Jüdischsein näherzubringen", ist seit gut einem Jahr Landesrabbiner. Er gehört der orthodoxen Chabad-Lubawitsch-Bewegung an, wuchs in Israel auf und hat sich die deutsche Sprache selbst beigebracht. Sein Großvater wurde in Hamburg geboren, bevor die Familie vor den Nazis fliehen musste. Der Rabbi, ein noch junger Mann und Vater von sechs Kindern, wirkt sehr freundlich und zugewandt. Einer Frau darf er jedoch, nach den Regeln seines Glaubens, die er streng auslegt, nicht die Hand geben. "Sie wissen schon", sagt er, "es symbolisiert eine Grenze, mit der Hand fängt es an und dann passiert mehr."

Hamburger Abendblatt: Was heißt jüdische Identität in Hamburg heute?

Shlomo Bistritzky: Wir leben hier in der Diaspora, zwischen Nichtjuden, und wir möchten, dass einer den anderen versteht, möchten unsere Religion hier vorstellen. Aber wir missionieren ja nicht. Jude ist man, wenn man eine jüdische Mutter hat. Für mich besteht Judentum vor allem in der Religion. Wir müssen sie unter den Juden und nach außen starkmachen.

Sonja Lahnstein-Kandel: Ich bin nicht religiös. Das war ein Entwicklungsprozess. Ich bin in einem sozialistischen Land aufgewachsen, in Jugoslawien. Dort bin ich Jüdin aus Trotz geworden. Judentum ist mehr als Religion. Ich fühle mich als jüdische Weltbürgerin. Wie viele andere auch.

Haben Sie in den vergangenen zehn Jahren Veränderungen bemerkt? Wird Religion allgemein wieder wichtiger?

Bistritzky: Wir haben vieles in der Gemeinde erneuert, Streitigkeiten beendet. Vor sechs Jahren wurde die Talmud-Tora-Schule gegründet. Es gibt viel Interesse seitens der Öffentlichkeit an der jüdischen Gemeinde. Ich sehe die Entwicklung sehr positiv. Religion ist heute im Leben wichtiger geworden, weil unsere Zeit so schnelllebig ist. Die Menschen reisen viel, sind im Netz unterwegs. Man sucht wieder etwas, das Bedeutung hat, Sinn im Leben ergibt.

Lahnstein-Kandel: Die Hamburger jüdische Gemeinde ist klein und introvertiert. Aber es ändert sich viel. Es wird mehr über Religion in der Öffentlichkeit gesprochen, weil man sich aufgehoben fühlen möchte. Ich glaube aber, dass man mit der Zerrissenheit im Leben zurechtkommen muss.

Gehört es zum Judentum dazu, dass man religiös sein sollte?

Bistritzky: Ja. Wie kann man die Zukunft gestalten, die jüdische Familie sichern, wenn man nicht religiös ist? Das Volk der Juden war früher eine Familie. Ein Volk sind wir erst geworden, als wir die Tora bekommen haben. Sie ist unser Wegweiser und stärkt unsere Identität. Ich erzähle gern die Geschichte von den Kindern, die von Südisrael unterwegs nach Jerusalem waren. Als sie an eine große Kreuzung kamen, lag der Wegweiser am Boden. Niemand wusste, wo es nach Jerusalem gehen soll. Bis ein Kind bemerkte, dass man das Schild so aufstellen muss, dass sie das Schild nach Südisrael im Rücken haben. Damit wussten sie automatisch, wohin es nach Jerusalem weitergehen würde. Also, wenn wir wissen, woher wir kommen, wer unsere Vorfahren waren, dann wissen wir auch, wohin es gehen soll.

Lahnstein-Kandel: Natürlich kommt man nicht ohne seine Vergangenheit aus. Aber das ist doch nicht nur den Juden vorbehalten. Es gilt für alle Menschen. Im Judentum hält man besonders an Traditionen fest, weil man glaubt, sonst würde sich alles verwässern. Wir müssen aber auch die säkularen Juden mitnehmen. Es gehört genauso zum Judentum dazu, Fragen zu stellen, nach dem Sinn zu suchen. Auch das ist eine Tradition, nach Gott zu suchen. Es gibt auch gläubige Juden, die viele der Traditionen nicht wollen.

Bistritzky: Tradition und modernes Leben sind kein Widerspruch, sie können sich ergänzen. (Der Rabbi zeigt sein Handy, auf dem unter anderem Apps für sein Gebetbuch, einen Kompass, den Beginn des Schabbat und hebräische Texte sind.) Es gibt in Europa und in den USA viele Juden, die säkular leben, die aber versuchen, die religiösen Traditionen dem eigenen Leben anzupassen. Das finde ich problematisch. Man sollte sein Leben der Tora anpassen, nicht umgekehrt. Es gibt einen Grund dafür, warum es die Juden seit Jahrtausenden gibt: Wir haben uns immer an die Tora gehalten. Das darf man an keiner Stelle aufweichen. Warum gibt es keine jüdischen Nachkommen mehr von Moses Mendelssohn, dem berühmten deutschen Philosophen? Er hat sich nicht an die Tora gehalten, und als Ergebnis waren seine Kinder dem Judentum entfremdet. Womit ich nicht seine Lebensleistung insgesamt infrage stellen möchte.

Lahnstein-Kandel: Das ist doch Unsinn. Er ist der Wegbereiter der Aufklärung, der Emanzipation. Wir alle profitieren heute von ihm und seinen Ideen. Sein Vermächtnis ist bedeutender als Riten.

Wie ist Ihre Einschätzung: Gibt es mehr Gläubige oder mehr Nichtgläubige?

Bistritzky: Ich glaube, in Israel ist der Prozentsatz der Nichtgläubigen recht groß. Aber an Jom Kippur feiern sie trotzdem und fahren nicht Auto. Und bei Trauerfällen kommen sie dann auch auf die Traditionen zurück. Das ist sehr widersprüchlich.

Lahnstein-Kandel: Wenn heute jemand Antisemit ist, wogegen richtet sich das, gegen die gläubigen Juden oder gegen Israel?

Bistritzky: Nicht unbedingt gegen Juden, sondern meist gegen Israel.

Lahnstein-Kandel: Ich werde häufig von Menschen angesprochen, die sehr interessiert sind und etwas über das Judentum wissen möchten. Oft höre ich dann: Ja, aber Israel, dort werden die Palästinenser unterdrückt. Es ist eine Art Reinwaschung, das heißt, man will eben doch etwas gegen Juden sagen dürfen.

Bistritzky: In der Beschneidungs-Debatte habe ich das erlebt. Da gab es Menschen, die froh darüber waren, etwas gegen Juden sagen zu können.

Was ist der Vorteil daran, gläubig zu sein?

Bistritzky: Das ist einfach: Man bekommt alles im Leben ganz leicht. Nehmen Sie das Beispiel der Trauer. Als Mensch trauere ich um einen Toten. Als gläubiger Mensch weiß ich, es muss einen Grund geben, warum Gott diesen Menschen hat sterben lassen. Gott hat gegeben, Gott hat genommen, wenn man daran glaubt, macht es vieles leichter. Der Glaube gibt dem Leben eine Struktur.

Lahnstein-Kandel: Das gilt für alle Religionen. Wenn man glaubt, ist man entlastet. Und auch entmündigt, weil man sich selbst nicht mehr quälen muss.

Das Leben wird leichter, wenn es Regeln gibt, die man einhalten muss. Und schwerer, weil man sie befolgen muss.

Bistritzky: Das ganze Leben ist ein Kampf zwischen Welt und Religion. Das Moderne enthält wenig Religion. Aber man kann auch im modernen Europa religiös leben.

Wie erklären Sie sich, dass es immer noch Antisemitismus in Deutschland gibt?

Lahnstein-Kandel: Antisemitismus scheint unausrottbar. Ein Meinungsmacher wie Jakob Augstein, der eine Zeitung besitzt und viel im Fernsehen auftritt, sollte sich der Verantwortung bewusst sein, die er hat. Seine Kritik an Israel und den Juden öffnet Schleusen. Das ist gefährlich. Der Antisemitismus äußert sich immer differenzierter, Möllemann ist da vor 20 Jahren noch mit dem Holzhammer vorgegangen. Augstein macht das viel subtiler. Warum gibt es so wenige Stimmen in Deutschland, die sich dagegen äußern? In Frankreich sprechen sich Intellektuelle viel deutlicher gegen versteckten Antisemitismus aus. Und es gibt mehr jüdische Intellektuelle, auf die man hört.

Bistritzky: Es ist in Deutschland nach der Schoah kein jüdisches religiöses Leben mehr übrig geblieben. Alle Rabbiner, die heute hier leben, sind Fremdsprachler. Denen fällt es sehr viel schwerer als Muttersprachlern, sich öffentlich in Diskussionen einzumischen. Viele Menschen wissen zu wenig über das Judentum. Jüdisches Leben ist hier nicht präsent. Es gibt beispielsweise kein Restaurant in Hamburg, in dem garantiert ist, dass dort koscher gekocht wird. Ich lebe seit zehn Jahren in Hamburg, war hier aber noch nie essen.

Dialogreihe "Bridging the Gap": Thalia, So 3. März, 11 Uhr, 14,- (8,- erm.), Karten unter: 32 81 44 44