Der böhmische Autor starb mit 89 Jahren. Mit Krabat oder dem Räuber Hotzenplotz erschuf er unsterbliche Helden der Kindheit.
Der Blocksberg trägt Trauer, das Dörfchen Holleschitz, die Burg Eulenstein – und auch Buxtehude. Das alles sind für Kinder Orte der Phantasie, in denen sie von ihren Eltern entführt, zu denen sie sich als Leseanfänger hingetastet haben, die Fernsehregisseure ins Licht gerückt haben. Es sind Orte, die Otfried Preußler erschaffen hat. Im Alter von 89 Jahren ist der große böhmische Schriftsteller in Prien nun am Chiemsee gestorben.
Nur wenige Deutsche haben es vermocht, in 55 Sprachen übersetzt zu werden und mehr als 50 Millionen Bücher weltweit zu verkaufen. Zum Vergleich: Siegfried Lenz wurde in 35 Sprachen übersetzt, Heinrich Böll in mehr als 30 Sprachen. Das schmälert nicht das Wirken der großen Literaten, sondern es zeigt die grenzenlose Begeisterung für die Geschichten Preußlers.
Preußler selbst war ein Grenzgänger, ein Opfer der Geschichte. Seine Vorfahren hatten seit Jahrhunderten in Böhmen gelebt und arbeiteten lange zumeist als Glasmacher. Preußler wurde 1923 im nordböhmischen Reichenberg, dem heutigen Liberec, in einen Lehrerhaushalt hineingeboren. Bücher spielten bei den Preußlers eine große Rolle, der Vater war nebenbei Heimatforscher und Schriftsteller. Er erzählte den Kindern auf Wanderungen durch das Isergebirge Märchen der Region. Besonders prägte Großmutter Dora die Jungen. Sie erzählte Otfried und seinem Bruder immer wieder böhmische Volkssagen, die sie angeblich in einem großen Buch gelesen habe. Doch sie schöpfte die Märchen allein aus der Kraft ihrer Phantasie. Später bezeichnete Preußler dieses erfundene Geschichtenbuch seiner Großmutter als das wichtigste seines Lebens. Schon im Alter von zwölf Jahren schreibt er seine erste Geschichte.
Seinen Berufswunsch zerstörten die Zeitläufte. Eigentlich wollte Preußler Professor für deutsche Landesgeschichte an der Karlsuniversität in Prag werden. Doch nach seinem Abitur in Reichenbach 1942 wurde er eingezogen und an die Ostfront geschickt. 1944 geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Fünf Jahre währte die Lagerhaft, der junge Mann erkrankte an Typhus, Malaria, Fleckfieber, magerte auf 40 Kilo ab. Die Gefangenschaft prägte Preußler. „Damals bin ich zum Optimisten geworden“, sagte er später. Im Lager habe er gelernt, dass Lachen in der Bedrohung ungleich besser helfe als sich ständig zu bemitleiden. „Deshalb versuche ich mit vielen meiner Geschichten, Kindern möglichst früh Gelegenheit zu geben, sich im Lachen zu üben.“
Nach seiner Freilassung 1949 verschlägt es den jungen Mann nach Rosenheim. Nun will er Lehrer werden. Doch schon während das Studium beginnt er zu schreiben, zunächst für Zeitungen und den Kinderfunk. 1953 wird er Volksschullehrer, drei Jahre später erscheint sein erstes Buch „Der kleine Wassermann“. Trotz rascher Publikumserfolge und vieler Preise bleibt Preußler seinem Beruf bis 1970 treu. „Meine Erzähl-Leidenschaft hat mir geholfen, eine Klasse von 52 Schülern zu bändigen.“ Die Schulkinder und seine eigenen drei Töchter sind die ersten Lektoren – gefallen ihnen die Geschichten, schreibt er sie nieder.
Preußlers Bücher sind erfrischend unpädagogisch, er will nicht erziehen oder Botschaften predigen, er nimmt die Kinder an die Hand, er nimmt sie ernst. Er wolle „nichts weiter, als den Lesern Spaß zu machen, sie in der Kunst des Lachens zu üben, ihrer Fantasie Nahrung zu geben, sie in ihrem natürlichen Lebensmut zu bestärken – und dies alles in der Hoffnung, ihnen auf solche Weise ein bisschen zusätzlicher Reserve an Kraft und Vertrauen mitgeben zu können auf den Weg in die Zukunft“, sagte der Autor einmal. Und: „Ich will nicht die Welt verändern. Geschichten will ich erzählen.“
In vielen seiner Werke erweckt er das böhmische Erbe zu neuem Leben. Sein Böhmen liegt nicht im europäischen Herzen, es liegt nicht am Meer, sondern in dem unendlichen Land der Phantasie. Ob Kleines Gespenst, Kleiner Wassermann oder Kleine Hexe, sie alle sind Sagengestalten mit menschlichem Antlitz. Figuren mit kleineren Schwächen, die sie mit Mut, Güte und Abenteuerlust überwinden – es sind Figuren, in denen sich alle Kinder wieder finden; die Kinder der Wirtschaftswunders wie der Rebellion, die Kinder des Waldsterbens wie des Internet. Zumal die Welt der Erwachsenen immer freundlich ironisiert wird – den Großen fehlt die Gabe, das Mystische als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Preußler verknüpft Gehörtes mit Biographischem und webt daraus plastische Geschichte. Unbefangen geht er mit dem Märchenhaften, dem Mystischen um. „Ich bin ja fest davon überzeugt, dass es eine schwarze Magie gibt, mit der man Menschen schadet, und auf der anderen Seite die weiße Magie.“, sagte er. Und er verstand sich als Kinderbuchautor ein „bisschen als Weißmagier“.
Wohl kein Bürgerkind der vergangenen 50 Jahre ist ohne Otfried Preußlers Phantasiewelt aufgewachsen – sei es in Büchern, im Film oder durch die legendären Stücke der „Augsburger Puppenkiste“. Preußler aber auf fröhlich-leichte Kinderbücher zu reduzieren, wäre zu wenig. Denn er hat auch „Krabat“ geschrieben, deutlich dunkler, deutlich ernster, deutlich älter. Die Bearbeitung der sorbischen Volkssage erzählt von einem Zauberlehrling, der sich mit finstren Mächten einlässt, von denen er zunächst fasziniert ist und deren wahres Gesicht er erst spät erkennt. „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation“, schrieb Preußler. Es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung gekommen sind und sich darin verstricken.“
Krabat, erschienen 1971, ist sein schwerstes Buch, ein Buch, das dem Autor alles abverlangte, das er zwischenzeitlich verwarf, zerknüllte, mit dem er zehn Jahre rang. Seine weltbekannte „Räuber-Hotenzenplotz“-Trilogie ist quasi ein Abfallprodukt dieses aufwendigen Schlüsselwerks. Preußler wollte zu Beginn der 60er-Jahre, nach dem Fehlstart mit Krabat, etwas Lustiges schreiben und machte die Figuren eines durchschnittlichen Kasperletheaters reif fürs große Kino. Gerd Fröbe als Hotzenplotz ist unvergessen; erst 2006 wurde der Stoff erneut verfilmt, eine großartige Version, in der Armin Rohde als Räuber auch die coolsten Kinder ängstigt, Barbara Schöneberger als Fee verzaubert und Piet Klocke als Wachtmeister Dimpflmoser anarchisch die Obrigkeit veralbert. Der „Räuber Hotzenplotz“ von 1962 wurde ein derartiger Erfolg, dass Kinder vehement eine Fortsetzung einforderten, die 1969 Wirklichkeit wurde. Auch danach gingen haufenweise Briefe und Postkarten beim Autor ein, sodass er 1973 „Hotzenplotz 3“ veröffentlichte – und peinlich genau darauf achtete, alle Handlungsstränge der Sage zu Ende zu erzählen. Damit endlich Schluss ist.
Preußler entwickelt in Hotzenplotz 3 seine Geschichten weit über die übliche Räuberpistole hinaus: Hier wird der Bösewicht von einst zu Unrecht verdächtigt und muss sich von der Polizei verstecken. Das Bilderbuch „Die dumme Augustine“ von 1972 avancierte zum Klassiker, weil es Rollenklischees mit atemberaubender Leichtigkeit abräumt und mehr zur Gleichberechtigung beigetragen haben dürfte als viele Leitartikel. Gleichwohl galt der „unpolitische“ Preußler in den politisierten 70er Jahren vielen als verdächtig, der Sudetendeutsche war Anfeindungen ausgesetzt.
In den vergangenen Jahren war es still geworden um Preußler. Ausgerechnet zu Beginn des Jahres rückte die Kleines Hexe von 1963 noch einmal in den Mittelpunkt des Feuilletons, in das sie zuvor selten fand. Weil im Buch die Rede von „Negerlein“ und „Türken mit roten Mützen und weiten Pluderhosen“ war, erklärte der politisch korrekte Verleger, das Buch überarbeiten zu lassen und „veraltete und politisch nicht mehr korrekte Begrifflichkeiten“ auszumerzen. Diesen Sprachpanschern würde man gern mal einen wütenden Räuber Hotzenplotz vorbeischicken.
Preußler selbst wehrte sich nicht mehr dagegen. Er widmete sich zuletzt dem Niederschreiben seiner Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft. „Aber das bekommt vorläufig niemand zu sehen. Erst wenn ich tot bin.“, sagte er vor rund vier Jahren dem „Focus“.
Otfried Preußler ist am Montag gestorben. Seine Bücher aber sind unsterblich.