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"Mit einundsiebzig erfuhr ich, was geistige Verwirrung ist", so kühl und nüchtern diagnostiziert Nathan Zuckerman seine derzeitige Befindlichkeit. Zuckerman, Schriftsteller, Jude, ist eine altbewährte Spielfigur mit deutlich autobiografischen Elementen in den Romanen des amerikanischen Schriftstellers und langjährigen Nobelpreisanwärters Philip Roth, der im März 75 wird. Versierten Roth-Lesern ist er aus mehr als einer Handvoll Romanen bekannt, zuletzt begegnete er uns in dem meisterlichen Roman "Der menschliche Makel". Nun, im neuen Roman Roths, "Exit Ghost", begleiten wir den zornigen alten Mann auf seinen Irrwegen durch New York, das ihm nach langer Abwesenheit fremd geworden ist.
Zuckerman, der sich elf Jahre zuvor nach antisemitischen Drohungen entnervt aufs Land zurückgezogen und dort zu innerer Ruhe gefunden hatte, die ihm kontinuierliche Schreibarbeit erlaubte, macht sich voller Hoffnung wieder auf den Weg in die Stadt. Denn Zuckermans größtes Problem sind die Folgen seiner Krebserkrankung: Inkontinenz und Impotenz. Eine neue Behandlungsmethode soll ihn wenigstens von den lästigen Windeln befreien.
Derart beflügelt, auch wenn sich keine erkennbare Besserung einstellt, lässt sich Zuckerman gleich noch auf ein Abenteuer ein. Er meldet sich auf eine Annonce mit dem Angebot des Wohnungstausches. Ein junges Paar, Jamie und Billy, angehende und erfolglose Schriftsteller, wünschen sich für ein Jahr ein Haus auf dem Land und bieten dafür ihr New Yorker Apartment. Natürlich kommt, was bei einem Roman von Philip Roth nicht ausbleiben kann: Nathan Zuckerman hat neben der Kontrolle über seine Blase auch die über seine Empfindungen verloren: Die wunderschöne Jamie mit den langen dunklen Haaren, mit ihren großen Brüsten, die eine Kaschmirjacke nur noch mehr betont, Jamie mit ihrem texanischen Akzent verwirrt ihn, weckt sein Begehren und macht aus ihm einen unkontrollierten Mann, dessen Begierde freilich keine Erfüllung finden kann.
Die "geistige Verwirrung" verdankt sich allerdings noch anderen Umständen. Ein Wiedersehen mit der einstmals jungen Geliebten von I. E. Lonoff, einem weiteren Säulenheiligen im Werk von Philip Roth, Schriftsteller auch er und längst tot, führt Zuckerman zurück in seine Jugendjahre, als er noch am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere war. Aus der wunderschönen, klugen Amy Bellette ist nach Jahrzehnten ein beklagenswertes Geschöpf geworden: ein Tumor hat die Hälfte ihres Gehirns zerstört. Die herbste Zumutung für den alten und kranken Nathan Zuckerman ist in der Figur des Richard Kliman zu sehen, einem jungen körperlichen Kraftprotz, der sich anmaßt, die Biografie eben jenes I. E.Lonoff zu schreiben und dessen Geheimnis zu erforschen, weshalb er, der auch noch der frühere Liebhaber von Jamie war, die Nähe zu Amy Bellette und zu Zuckerman sucht.
Zwischen diesen Spannungspolen lässt Philip Roth seinen bemitleidenswerten Helden, der sich des Nachts schreibend an einem fiktiven Dialog zwischen "Sie" und "Er", also zwischen Nathan und Jamie, delektiert, verzweifeln und beinahe verrückt werden, zerrieben zwischen Begierde und Ernüchterung. Es ist das alte Thema, das Philip Roth wieder aufgreift. Doch anders als in seinem letzten kleinen, geglückten und berührenden Roman "Jedermann" wirkt dieser Abgesang auf Alter, Krankheit und Tod und die damit einhergehenden Demütigungen seltsam disparat. Eingefleischten Roth-Lesern bietet der Roman gleichwohl ein weiteres biografisches Spiel mit Zuckerman und Lonoff. Jeder andere wird sich Nathan Zuckermans Sicht auf seinen Ausflug nach New York anschließen: "Es war nichts weiter geschehen, als dass beinahe etwas geschehen war."
- Philip Roth: Exit Ghost, aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, 297 Seiten, 19,90 Euro .