Nächste Woche beginnen die Festspiele in Bayreuth, in einem Hamburger Workshop treffen sich die Abhängigen und sprechen über die Musik, die berührt.
Hamburg. Neonröhren spenden kaltes Licht, silberne Belüftungsschächte ziehen sich an den hohen Decken entlang, die Wände sind abgeschabt und schmutzig, der Boden ist mit Klebeband-Markierungen versehen. Hier, im zweiten Untergeschoss der Opera stabile soll nicht entspannt, sondern gearbeitet werden. Hier gilt's der Kunst. Und um die, speziell um die Richard Wagners, geht es auch den etwa 60 Teilnehmern eines Opern-Workshops, die sich einen Abend und einen Tag lang in "Tristan und Isolde" versenken wollen. Angeleitet durch Volker Wacker, der solche Intensivkurse regelmäßig abhält und weiß, dass er es hier mit einer ganz besonderen Spezies Opernfans zu tun hat.
"Wagner ist wie Rauschgift", sagt er. "Wer es einmal gekriegt hat, hängt an der Nadel." Doch auch wenn an diesem Ort die Junkies unter sich sind, Einigkeit herrscht keineswegs. "Wie kein anderer Opernkomponist polarisiert er zwischen Anhängern und Gegnern", heißt es im Fachmagazin "wagnerspectrum" über Richard, den Großen. Aber damit nicht genug, selbst ausgemachte Wagnerianer sind einander keineswegs immer grün. Wagner ist Herzensangelegenheit, für manche Religion.
Und so tobt im Workshop der Kampf um die Deutungshoheit. Was hat der Meister gemeint, wie sollen seine Werke aufgeführt werden, welche Striche in der Partitur sind zulässig? Oder, ganz simpel: Liebt Tristan die stolze Isolde eigentlich wirklich? "Der Mann ist ein mieser Karrierist", erklärt Wacker, erntet Zustimmung, aber auch Widerspruch. Wer diese Oper schon viele Male gesehen hat und im CD-Regal zwei Dutzend Gesamteinspielungen des Vierstünders hortet, lässt sich seine Sicht der Dinge nicht im Handstreich zerstören. Es wird diskutiert - und der Zeitplan des Workshops ist zum Teufel.
Jedoch: Gelangweilt ist hier niemand. Auch nicht Nicole Alexander, die vom Vater schon mit 14 Jahren zum ersten Mal mit nach Bayreuth genommen wurde und ihr Initiationserlebnis, ein "Lohengrin" unter der Regie von Werner Herzog, nie vergessen hat. Heute ist sie 33, Juristin, und immer noch im Wagner-Bann. Pop- und Rockmusik interessiert sie kaum, und weil es schwierig ist, jemanden zu finden, der ihre Wagner-Begeisterung teilt, geht sie eben allein in die Oper.
Oder zum Opern-Workshop. "Die Musik berührt mich sehr", sagt sie und erinnert sich an ihren ersten "Tristan", der sie "völlig ergriffen" habe. Nach dem letzten Takt saß das Publikum eine Minute lang wie benommen da und schwieg, bevor dann der Applaus losbrach. Auch so ein Schlüsselerlebnis, das Wagner, oder besser: seine Musik für sie einzigartig macht.
"Leben mit Wagner" hat der Musikkritiker Joachim Kaiser eines seiner Bücher betitelt, und genau darum geht es. Ob "Fliegender Holländer" oder "Der Ring des Nibelungen", ob "Tannhäuser" oder "Parsifal": Echte Wagnerianer hören keines dieser Werke nebenbei, niemals, sie befinden nichts für "ganz gut", sondern geben sich jedem Takt, jeder stabgereimten Textzeile vollends hin. Ihnen wird die Musik zum unverzichtbaren Alltagsbegleiter, zum Fluchtort auch, manchmal gar zur Ersatzreligion. "Bei Wagner wird nichts im Kleinformat vorgeführt", sagt Volker Wacker. "Diese Opern sind hoch emotional und ganz großes Kino."
Am intensivsten lässt sich das natürlich an dem Ort erleben, den der Meister selbst für seine Zwecke geschaffen hat, im Bayreuther Festspielhaus. Mögen die Sitze auch hart und eng gestellt sein, um die verfügbaren Karten entbrennt jedes Jahr wieder ein harter Kampf. Durchschnittlich acht Jahre muss warten und sich immer wieder aufs Neue bewerben, wer einmal im Allerheiligsten der Wagnerianer Platz nehmen will. Inklusive Anreise und Hotelübernachtung keine günstige Angelegenheit, aber doch alternativlos.
20-mal war Volker Wacker inzwischen in Bayreuth, hat dort 1976 den legendären Jahrhundert-"Ring" von Patrice Chéreau gesehen, dessen antikapitalistische Deutung des Stoffes nicht nur das Publikum, sondern auch die Orchestermusiker in glühende Befürworter und radikale Gegner spaltete. Es wurde gejubelt, gebuht, im Parkett wortreich gestritten und gegeifert, man werde "lieber eine Ratte lebendig fressen", als sich "diesen Dreck" noch einmal anzusehen.
Ähnliche Reaktionen löste 2004 der von Christoph Schlingensief inszenierte "Parsifal" aus, ein Malstrom der überbordenden Gedankenfetzen und Anspielungen, fähig, bei Teilen des Publikums dunkelste Seiten freizulegen. "Schickt den ins Gas!", habe ein Besucher nach der Premiere in Richtung Schlingensief gerufen, erinnert sich Wacker mit einem Schaudern.
Eine Ausnahme, gewiss, aber eben auch Zeichen für die ungeheure Vereinnahmung Richard Wagners, die bis heute wohl am heftigsten umstrittene Gestalt der Musikgeschichte. Nicht umsonst sind nur über Jesus Christus und Adolf Hitler noch mehr Bücher erschienen. Ein Abflauen des Interesses ist nicht in Sicht. Für Volker Wacker folgerichtig, denn Wagners Werke haben kein Verfallsdatum. Weder der "Ring", der sich inhaltlich auf die Kurzformel "Geld oder Liebe?" herunterbrechen lässt, noch "Tristan und Isolde", dieses Drama, das dem universellen Wesen der Liebe nachspürt.
Festival-Chefin Katharina Wagner hat im "Spiegel" erst kürzlich ihr Befremden über die kultische, quasireligiöse Verehrung der Bayreuth-Pilger formuliert: "Dieses Verhalten finde ich merkwürdig", sagte sie. Zum Glorifizieren habe ihr Vater, der langjährige Festspiel-Chef Wolfgang Wagner, nie geneigt - und sie ebenso wenig: "Das ist mir fremd." Wenn man das leben wolle, so Katharina Wagner weiter, sei das zwar "in Ordnung. Ich bin nicht der Typ dafür."
Die Teilnehmer des Hamburger Opern-Workshops allerdings haben auch nach Kursende noch viele Fragen. "Wagnerianer wollen immer alles ganz genau wissen, den Stoff vollkommen durchdringen", weiß Wacker und gibt beim spontan drangehängten Abendessen im nahen Restaurant noch einen Interpretationsnachschlag. Nicht ohne schon mal auf die für 2013 geplanten Workshops zu verweisen. Im nächsten Jahr wird schließlich der 200. Geburtstag des Meisters gefeiert, ein guter Grund für all die Wagner-Junkies, sich eine Extraportion ihrer Droge zu genehmigen. Zum Beispiel in der Hamburger Staatsoper, die aus diesem Anlass gleich zehn Wagner-Werke im Programm hat. Für gewöhnliche Operngänger: eine Herausforderung. Für Wagnerianer: ein Fest.