Zu den Ikonen des Skandal-Gedängels geht man, um dem schnöden Alltag zu entfliehen. Es knallte, brannte und loderte durchgängig.

Hamburg. Bevor es tatsächlich losgeht, findet man die Unterschiede zwischen dem Konzertpublikum von Rammstein und dem einer beliebigen anderen Band dieser Größenordnung nur, wenn man genauer hinschaut:

Zum einen sind da die Gestalten, die aus der Masse der Idealstandard-Popkonzertgäste in der seit Ewigkeiten ausverkauften O2 World herausstechen. Zu ihnen gehört der Mann im Schrankwand-Format, der auf seinem Oberarm die Konterfeis von Terrence Hill, Bud Spencer und Jimi Hendrix tätowiert trägt genauso wie der spillerige Teenie mit dem ausrasierten Muster in der Frisur und die Teilzeitvampirin mit der Spitzencorsage. Zum anderen sind da die vielen T-Shirts mit den markigen Sprüchen. Es wirkt fast surreal, wenn Menschen mit dem Habitus von Bankangestellten und Abteilungsleitern Zeilen wie “Stacheldraht im Harnkanal“ oder “Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“ spazieren tragen. Gerade, wenn darunter der Kragen eines karierten Hemdes hervorlugt.

Davon abgesehen aber deutet nichts darauf hin, dass hier kurze Zeit später eine Band auf die Bühne kommen wird, die sich ihren Ruf als Lieblingsfeind der deutschen Feuilletons und aller Verfechter der Political Correctness hart erarbeitet haben. Überall stehen Grüppchen von Menschen herum, lachen und scherzen, sind voller Vorfreude. Von Aggressivität keine Spur. Rammstein sind aus allen Skandalen und Skandälchen als Sieger hervorgegangen, auch die aktuelle Best-Of-Tournee kann sich vor zahlungswilligen Fans kaum retten.

Die sind nicht einfach da, um den Auftritt einer Band zu sehen, sie flüchten für zwei Stunden vollständig aus dem Alltag. Denn als das Konzert beginnt, ändert sich alles. Nicht nur, weil die Herren um Vorgroller Till Lindemann mehr Brände anfachen, als eine durchschnittliche Feuerwache im Jahr löscht. Es knallt, brennt und lodert durchgängig. Auch, weil sich das Verhalten der Fans mit den ersten Tönen radikal ändert: Die schwarzbunt gemischte Menge homogenisiert sich binnen Sekunden. Lindemann und Co. marschieren samt blutverschmierter Hamburg-Flagge durch das Publikum und alle werden sofort in den Bann von Rammstein geschlagen. Jeder kennt jedes einzelne Wort eines jeden Songs auswendig, jeder reckt die Faust zum Refrain empor.

Außer vielleicht bei “Mann gegen Mann“. Da bleiben viele stumm. Pornografie regt niemanden auf, mit überzeichnetem Sadismus und mit Kannibalismus können die Fans umgehen. “Pussy“ wird als Spaß genommen, “Bück Dich“ und “Mein Teil“ sind so fern der Realität, dass jeder fröhlich mitgrölt. Doch Homosexualität scheint vielen unangenehm zu sein, sie warten lieber auf den nächsten Song und sind dann wieder voll dabei.

Ein Rammstein-Konzert zu besuchen, das ist so, als wenn man beim Wrestling dem Bösen zujubelt, ins Kino geht, um einen Horrorfilm zu sehen. Ein kurzer Ausbruch, nach dem man beruhigt in den Alltag zurückkehren kann. Oder anders gesagt: Popmusik, die vom Ruch des Verbotenen umweht wird. Ohne dabei mehr zu sein als kalkulierte Provokation und eine bombastische Show.