Das soziale Netzwerk Facebook will uns künftig die Möglichkeit geben, die Geschichte unseres Lebens zu kuratieren - oder das, was wir dazu machen
Hamburg. Dass Facebook nicht nur ein Netz-, sondern ein Wunderwerk ist, versteht sich von selbst: 800 Millionen Menschen weltweit nutzen die sagenhafte Internetseite. Sie laden Bilder hoch, erzählen, was sie gerade machen, schicken Nachrichten an Freunde, die Tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Und man teilt jedem, der es wissen will oder auch nicht, seine Vorlieben mit. Passionierte Facebook-Nutzer sind immer auf Sendung, ihr Leben bildet sich auf dem Nutzerprofil ab, und manchmal ist das virtuelle Leben zu großen Teilen an die Stelle des wirklichen getreten. Die "digital natives" ("digitale Eingeborene") bewegen sich mit traumhafter Sicherheit durch die Weiten des Netzes. Dabei tragen sie eine ganze Menge mit sich herum.
Nämlich das, was Kritiker als "nutzerbezogene Daten" bezeichnen; sie sind interessant für die Welt der Werber. Viel wichtiger ist jedoch das eigene Leben, das die Facebook- und Twitter-Nutzer im Internet ausbreiten. Über den Aspekt der Selbstinszenierung ist schon nachgedacht worden: Facebook-Nutzer modellieren ihr (Wunsch-)Ich online. Der in der digitalen Revolution geborene Mensch wird von Skeptikern als "gläsern" bezeichnet. Kulturpessimisten befürchten das Ende der Privatsphäre und schmähen das Zeitalter des Exhibitionismus. Sie werden jetzt durch die Pläne des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg in ihrer Kritik bestärkt.
Bald schon, nach dem von Zuckerberg vorgestellten Relaunch des sozialen Netzwerks, bietet Facebook den Nutzern noch mehr Möglichkeiten. Künftig soll jeder User auf seinem Profil eine Art Lebensarchiv anlegen können, in dem er all das ablegt, was wichtig erscheint: Fotos von Familienfesten, Kochrezepte, Geburtsurkunden. Bislang rutschen Statuszeilen und Fotos, die länger zurückliegen, mit der Zeit von der eigenen Pinnwand. Außerdem will Facebook alle vom jeweiligen User mitgeteilten Äußerungen sammeln und sortieren. So entsteht ein "Lifestream", eine sich stetig aktualisierende Biografie. Die permanente Selbstauskunft wird dem Freundeskreis (und dem Nutzer selbst) bald eine noch schlüssigere Version der eigenen Person liefern.
Auf einen Klick entblättert sich so ein Mensch, gibt sich eine Gegenwart und eine Vergangenheit. Bemerkenswert ist besonders ein Satz, den Zuckerberg bei der Vorstellung der Pläne sagte: Facebook wolle allen Nutzern die Möglichkeit geben, ihr Leben zu kuratieren. "Kuratieren" ist das Modewort der Saison. Wo früher organisiert, geordnet, konzipiert oder verwaltet wurde, wird heute kuratiert. Der Begriff stammt eigentlich aus dem Bereich der Kunst. Man könnte nun sagen, dass im postmodernen Anything goes , in der Zerstückelung und Dynamisierung von Biografien, die Organisation eines Lebenslaufs genau das ist: eine Kunst. Andererseits deutet der Gebrauch dieses Wortes durch Mark Zuckerberg viel eher auf die Künstlichkeit, die aus der Facebook-Praxis mancher Nutzer entsteht.
Denn manchmal hat die virtuelle Selbstinszenierung keine reale Entsprechung mehr: Etwa wenn Dinge nur noch getan werden, um danach eine Statusmeldung zu werden.
Es soll Leute geben, die sich heute in Kneipen treffen und sich nichts wesentlich Neues mehr erzählen können. Es stand ja alles schon bei Facebook. Facebook will, und das ist die zweite große Neuerung, die Mediennutzung seiner Benutzer noch praktikabler machen, indem es durch in den USA schon sehr populäre Streaming-Dienste das gemeinsame Schauen von Filmen und Hören von Musik ermöglicht.
Es muss nicht notgedrungen die Qualität von Freundschaften verändern, wenn man sich künftig gemeinsam und doch getrennt (an unterschiedlichen Bildschirmen) die Zeit vertreibt. Es wird aber die Art, wie wir miteinander kommunizieren, noch mehr den Gesetzen der Technik unterwerfen. Grundsätzlich gesprochen werden wir gegenwärtig (wieder einmal) Zeuge einer Entzauberung der Welt: Denn verbunden mit den mannigfachen Möglichkeiten, durch Facebook mit Menschen in Kontakt zu treten, verbunden auch mit dem effizienten Freundschafts-Management, das Facebook bietet, ist eine Technisierung emotionaler Bande. Wer per Knopfdruck alles über einen wissen kann, ist vielleicht irgendwann gar nicht mehr neugierig.
Auf gewisse Weise erscheint Facebook im Übrigen wie Zuspitzung all dessen, was unsere Existenz im Innersten ausmacht. Subjekt-Theoretiker wie der Philosoph und Psychoanalytiker Jacques Lacan haben darauf hingewiesen, dass es bei dem, was wir für unser Selbst halten, nicht unbedingt darum geht, wer wir sind. Sondern vielmehr, wer wir für andere sind. Lacan sprach vom "großen anderen", der unser Leben strukturiert, und meinte eine symbolische Instanz, an der wir unser Selbst ausrichten. Genau diese Instanz könnte, wie der Wissenschaftler Oliver Mannion jüngst in einem Artikel erklärt hat, heute vor allem Facebook sein.
Wir versichern uns unserer Selbst, indem wir anderen zeigen, wer wir sind. Facebook übernimmt dort mittlerweile eine entscheidende Rolle. Mannion weist auch darauf hin, dass das soziale Netzwerk besonders für Pubertierende als Mittel der Identitätsbildung wichtig ist. Freundschaft funktioniert im Internet vor allem über narzisstische Elemente. Man zeigt nicht nur wer, sondern vor allem, wie toll man ist. Das neue Facebook wird diese Tendenz noch verstärken.
Es ist wohl so, dass das Internet am Ende nur das abbildet, was Zusammenleben und soziale Interaktion auch in Wirklichkeit ausmachen. Problematisch wird das dann, wenn jemand stirbt. Was passiert mit seinem virtuellen Ich? Wenn Verwandte oder Freunde ein Profil abschalten, stirbt auch das. Wenn nicht, bleibt ein kollektives, digitales Gedenken wie aktuell auf der Facebook-Seite des Autors Marc Fischer, der vor Kurzem starb. Noch heute posten Freunde und Bekannte auf seine Pinnwand. Es sind mitunter bewegende Einträge.
Über den Tod redet bei den Facebook-Machern übrigens niemand. Facebook operiert ganz im Diesseits.