Jette Steckel gilt als größtes Regie-Talent ihrer Generation. Heute feiert ihre Bühnenadaptation von Albert Camus' “Der Fremde“ Premiere.

Hamburg. Es ist gar nicht so einfach, mit dem Label des weiblichen Supertalents der deutschen Theaterszene durchs Leben zu gehen. "Ich spüre das Gefühl der Verantwortung. Das hat mit Erwachsenwerden zu tun", sagt Jette Steckel. Die Probe ist aus. Eine der letzten, bevor an diesem Freitag die Premiere von Albert Camus' "Der Fremde" im Thalia in der Gaußstraße über die Bühne geht. Nervös fingert sie an einer Zigarette, doch die Augen unter ihren kurzen blonden Haaren blicken fest geradeaus. Überlegt spricht sie über die letzten Dinge und großen Sinnfragen des Theaters. Ein Tretminenfeld.

Camus, der Begründer der Philosophie des Absurden, ist der bislang stetigste Wegbegleiter der 29-Jährigen. Seinen "Gerechten" widmete sie ihre Abschlussarbeit an der Hamburger Theaterakademie. In der Gaußstraße hat sie bereits sehr erfolgreich "Caligula" inszeniert, eine Übernahme vom Deutschen Theater Berlin und Sieger des Festivals Radikal Jung am Münchner Volkstheater 2009. Eindringlich und klug führte sie mit Mirco Kreibich als einer Art Grunge-Tyrann das Abdriften des Herrschers in die Tyrannei bis zur Selbstauslöschung in einer Welt allgemeiner Wertelosigkeit vor.

Und nun untersucht sie anhand des "Fremden" die Frage, ob totale Gleichgültigkeit absolute Freiheit bedeute. "Ich gehe jetzt zurück an den Ursprung. Das ist das Buch, bei dem die meisten anfangen, sich mit Camus zu beschäftigen", sagt sie. "Bei mir ist das kein pubertäres Phänomen, sondern irgendwie von Dauer. Oder ich bin immer noch pubertär." Nein, das ist sie nicht.

Mit ihrer Bühnensprache trifft Steckel den Nerv nicht nur ihrer Generation, sondern auch einer Zeit, in der institutionalisierte Gewissheiten wie Demokratie und Finanzwelt in den Schatten des Zweifels geraten. Mit fast romantischem Trotz glaubt sie an die Echtheit des Gefühls und hinterfragt immer wieder aufs Neue die Wahrheit. Klug geht sie dabei vor, aber auch voller Leidenschaft für das Spiel. Die vierte Wand zum Publikum bleibt bestehen, aber sie wird durchlässiger. "Mir geht es um größtmögliche Ehrlichkeit in der verabredeten Lüge auf beiden Seiten, der des Schauspielers und des Zuschauers", sagt sie. "Dazu gehört auch, keine Antwort zu haben. Keinen Utopievorschlag zu geben. Keinen Raum für Romantik oder Unbedingtheit. Nur den Widerstreit mit dem Vorhandenen zu zeigen." Zuletzt hatte Thalia-Intendant Joachim Lux ihr mutig erst für den "Woyzeck" in der Musicalversion von Waits/Wilson, dann für Schillers politisches Ideendrama "Don Carlos" die große Bühne überlassen. Mit dem kargen Woyzeck, bei dem die Figuren auf einem Klettergarten turnen, landete sie einen Hit. Mit ihrem virtuosen "Don Carlos" gewann sie endgültig Publikum und Kritik. Schon wieder gab es eine Ehrung, diesmal den Hamburger Rolf-Mares-Preis. Dieser erstaunlichen Regisseurin gelingt derzeit einfach alles. Auffällig an ihr ist die Natürlichkeit, mit der sie auch ihre jüngsten Entwicklungssprünge scheinbar gelassen hinnimmt. Die klassische Ochsentour durch die Assistenzen hat die 1982 in Berlin geborene Jette Steckel nie absolviert. Musste sie auch nicht, denn sie ist im Theater groß geworden. Vater Frank-Patrick Steckel ist ein hoch anerkannter Regisseur und langjähriger Intendant am Bochumer Schauspielhaus, die Mutter Kostümbildnerin.

Steckel wurde von Lux-Vorgänger Ulrich Khuon noch vor dem Diplom mit ersten Arbeiten im Thalia in der Gaußstraße betraut. Sie könne nichts anderes und wisse noch nicht einmal, ob sie das hier könne, sagte sie noch vor vier Jahren. Längst ist klar, sie kann es. Überzeugend brachte Steckel jugendliche Erlebniswelten in Darja Stockers "Nachtblind" auf die Bühne, wofür sie 2007 die Zeitschrift "Theater heute" mit dem Prädikat Nachwuchsregisseurin des Jahres bedachte.

In "Der Fremde" sieht sie sich jetzt einem Roman gegenüber, dessen Hauptfigur nicht viel redet und der vor allem über Atmosphäre und inneren Monolog funktioniert. Meursault, "der Fremde", wird zum Tode verurteilt. Dass er zufällig und womöglich aus Notwehr einen Araber tötete, wirkt beinahe wie ein Vorwand. Vor allem ist es der Gesellschaft nicht geheuer, dass er nach dem Tod seiner Mutter mit einem Mädchen flirtet und keine Betroffenheit an den Tag legt. Steckel glaubt, dass sich derartige Gefühle von Desillusionierung etabliert haben. "Heute erfahren wir die Nichtigkeit von Werten viel stärker. Zum Beispiel in der Kriegsführung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Tötung legitimiert ist. Das ist ein eklatanter Widerspruch", sagt sie. Für Camus bedeutete das Aufrechterhalten des absurden Zustandes das Festhalten am Leben, am eigenen und dem des anderen. "Es gibt eine Diskrepanz zwischen den lebendigen Kräften der Individuen und der Gesellschaft als Struktur von sozialen Normen", so Steckel.

Aus dem schmalen Roman hat sie gemeinsam mit ihrer Dramaturgin Katrin Sadlowski ein rasantes Theaterstück gesampelt. Da treten gleich mehrere Meursaults auf. Die vier Darsteller werden zu Trägern von Textflächen. An diesem Tag beschäftigt Steckel die Frage, ob Meursault, der das Absurde, also den Zwiespalt zwischen dem eigenen Sinnstreben und der sinnleeren Welt, realisiert, mit Gleichgültigkeit reagiert - oder ob er es fatalistisch hinnimmt und den Tod als Abschluss begreift.

Dabei mag sie sich noch so hinreißend in das Schema des jungen, hippen Naturtalents fügen, ihr Erfolg ist das Ergebnis ernsthafter Arbeit. Sie muss sich nicht mehr gegen die Elterngeneration abgrenzen. Das lange Zeit so zeitgeistig Ironisierte interessiert sie nicht. Ihre Sehnsucht nach Ehrlichkeit schließt inzwischen auch ein, die theatrale Vereinbarung der Lüge offenzulegen. Wie ehrlich machen wir uns vor, dass wir uns etwas vorlügen?

"Ich frage mich vor allem, wie Theater jetzt eigentlich geht. Wir sind mitten in einem Umbruch. Es gibt wieder eine Sehnsucht nach Psychologie, gleichzeitig sind alte Wege berechtigt verstellt. "Wir leben in einer Zeit, in der sämtliche Grenzen von der politischen Haltung bis zur Sexualität aufgelöst sind", sagt sie. "Provokation und Grenzüberschreitung im Theater sind ungleich schwerer geworden. Da bin ich auf der Suche. Wie komme ich zu dem Punkt, an dem die Konzentration all der verschiedenen Menschen und Haltungen auf den Moment eintritt, ein Erlebnis, das man früher Katharsis genannt hat?" Hier arbeitet sie sich auch an ihrem eigenen Widerspruch ab. "Ich habe ja auch Lust zu überrumpeln." Ja, zum Glück. Denn das macht das Theater der Jette Steckel nicht nur geistreich, sondern auch unerhört lebendig.

Der Fremde Premiere Fr. 28.10., 20.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de