Mit dem letzten Kinostart der Fantasy-Verfilmung nimmt die Generation Harry Potter Abschied. Von ihrem Helden und irgendwie auch von ihrer Kindheit.

Vor zwölf Jahren wussten die meisten von uns nicht, wie man einen Garten entgnomt. Oder wie man sich vor einem Basilisken schützt (nicht hinsehen!) oder was Quidditch ist (ein Mannschaftsspiel auf Zauberbesen). Gerade war in Deutschland der zweite Band, "Harry Potter und die Kammer des Schreckens", erschienen, der im Buchhandel abzischte wie ein Norwegischer Stachelbuckel (eine Zauberdrachenart).

Die Ahnungslosigkeit ist inzwischen verflogen. Heute ist eine ganze Generation komplett durchpotterisiert. Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens teleResearch hat jeder vierte Deutsche ab 14 Jahren mindestens einen Harry-Potter-Band gelesen. Entgegen allen Unkenrufen - "die Jugend liest ja heute nicht mehr" - haben sich seit 1998 ganze Jahrgänge durch sieben Wälzer mit zusammen 4352 Seiten gearbeitet, auf Deutsch und meist auch auf Englisch, haben Hörbüchern gelauscht und seit 2001 sieben abendfüllende Kinofilme mitverfolgt. Sie haben Eltern und Geschwister angesteckt, Fankreise und Internetforen gebildet.

Wenn heute der letzte Film "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes II" startet, geht für viele eine Ära zu Ende. "Ich kann das noch gar nicht glauben, denn Harry war immer ein treuer Begleiter meiner Kindheit", sagt Linda Giering, 17, ein Potter-Fan der ersten Stunde. Für Amira Elatawna, 18, ist es "wie ein Abschluss meiner Kindheit".

Die gefühlte Generation Harry Potter gibt es nämlich wirklich. Das bestätigten uns viele junge Leute, die sich auf einen Abendblatt-Aufruf meldeten. Alle haben von Kindesbeinen an sämtliche Bücher gelesen und alle Filme gesehen. Wir wollten wissen: Was genau war denn so faszinierend an den Potter-Büchern? Mit welchen Figuren haben sich junge Leser am meisten identifiziert? Was bleibt von Potter?

"Fasziniert hat mich die grandiose Idee, dass es neben unserer Muggelwelt eine parallele Zaubererwelt gibt", sagt Fabian Grünke, 22. Als 1998 der erste Band "Harry Potter und der Stein der Weisen" erschien, war Grünke acht und Harry elf. "Ich bin mit Harry erwachsen geworden, man hat in etwa die gleiche Entwicklung gemacht, sich ab der gleichen Zeit für Mädchen interessiert. Das verbindet", sagt der Lehramtsstudent. Für die meisten war die Geschichte von Harry Potter und seinen Mitstreitern Ron Weasley und Hermine Granger ein klassischer Entwicklungsroman parallel zur eigenen Erwachsenwerdung.

Laszlo Braune, 23, hat mitgelitten, mitgefühlt und mitgedacht: "Mich hat beschäftigt, wie er die Aufgaben in Angriff nimmt. Man denkt: Ja, das ist richtig, so würde ich es auch machen", sagt Braune, der gerade auf einen Studienplatz in Psychologie wartet.

Als größtes Faszinosum nennen fast alle die große Detailfreude, mit der die Autorin Joanne K. Rowling die Welt um das Zaubererinternat Hogwarts ausgestattet hat. Jugendliche Leser, die kleinere Aufträge (Räum dein Zimmer auf! Mach deine Hausaufgaben!) im wirklichen Leben sonst sofort vergessen, zeigen enorme Gedächtnisleistungen, wenn es etwa um die komplizierten Quidditch-Regeln geht. Viele erinnern sich heute noch besser an die Namen der Zauber-Lehrer oder die Haustiere der Hogwarts-Zöglinge als an die Lehrkräfte der eigenen Schule. Wer mit der Generation Harry Potter spricht, spricht mit Kennern.

"Die Geschäfte in der Winkelgasse, der Hogwarts-Express und natürlich Hogwarts selbst waren besonders schön beschrieben, da tauchte man umso besser in die Geschichte ein", findet die Studentin Alina Pein, 20. Immer wieder begeisterte sie sich für "das urige Internatsleben, den riesigen Speisesaal, die drehenden Treppen, das Quidditch-Spiel und die Hausgeister". Hannah Weishaupt, 16, hat zusammen mit ihrer Mutter alle Film-Drehorte in Großbritannien besichtigt, in London, Oxford, Gloucester, Fort William und Durham - eine Potter-Bildungsreise. Gerade der Fernseh- und Pokémon-Generation eröffnete Hogwarts eine alternative Welt ohne Handys und Computer. "In den Kursen ,Verteidigung gegen die dunklen Künste' und ,Verwandlung' hätte ich selber gerne gesessen", sagt Nicole Schünke, 21. Auf Linda Giering wirkte das Lesen ansteckend: "Ich habe eigene Zauberbücher geschrieben, in denen ich Zaubersprüche aus den Büchern und Rezepte für Zaubertränke sammelte. Und ich hatte eine Liste aller Hogwarts-Lehrer mit ihren Eigenschaften und Nettigkeitsgraden."

Kristina Hennig, 20, baute mit Potter-Legosteinen das Hogwarts-Schloss und Räume für Harry, Ron, Hermine, den Hauselfen Dobby und sogar den Kerker nach. "Die Steine hab ich heute noch", sagt sie. In der Grundschule spielte sie in den Pausen mit Freundinnen Hogwarts. Genauso wie Linda Giering, die meist den Wildhüter Hagrid übernehmen musste: "Weil ich die längsten dunklen Haare hatte, die habe ich mir als Bart unter dem Kinn zusammengebunden."

Spätestens ab Band 4 - "Harry Potter und der Feuerkelch" - outeten sich prominente Erwachsene wie der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm als Potter-Leser. "Seien Sie nicht überrascht, wenn Ihnen in Kürze Ihr Kind, Ihr Partner, ein Freund oder auch ein unbekanntes Schulkind in den Weg springt, Sie mit einem Schaschlikspießchen bedroht und laut ,Imperio!' schreit", schrieb "TV Hören und Sehen". Die einzig richtige Reaktion sei: "Zücken Sie einen Bleistift und rufen Sie ihm gebieterisch ,Expelliarmus!' entgegen." Expelliarmus ist ein Entwaffnungszauber.

Von Buch zu Buch entwickelten sich vielfältige Sympathien. Jonas Kaminski, 19, fand zuerst das Trio Harry/Ron/Hermine besonders "cool", "mittlerweile bin ich aber Sirius- und Hagrid-Fan. Es war genial, sich einen Halbriesen auszudenken." Als Harry Potters Pate Sirius Black in Band 5 starb, waren Zigtausende Fans tatsächlich sehr traurig, unter ihnen Nicolas Gorny, 27: "Sirius fand ich toll, weil er nicht so ein Strahlemann, sondern eher ein Antiheld war." Als interessanteste Figur nennen viele den düsteren und undurchschaubaren Zaubertrank-Lehrer Severus Snape. "Man hat sich immer gefragt: Gehört er nun zu den Guten, zum Phönix-Orden, oder doch zu den Todessern?", sagt Jana Tauffenbach, 17. Amira Elatawna, die Musik in einer Band macht, hat sogar einen Song über die Lebensgeschichte von Snape geschrieben, "und auch einen über die Liebe zwischen Ron und Hermine".

Als 2007 mit "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" der letzte Band erschien, wurde in Internetforen nervös über Todesfälle spekuliert, in Blogs bereiteten sich Leser gegenseitig auf drohende Verluste vor. Medienpsychologen warnten, dass gerade Kinder und Jugendliche enge "parasoziale Beziehungen" zu langjährig liebgewordenen Figuren wie Harry Potter entwickeln könnten. Wenn die geliebte Figur dann stirbt, könnten gerade treue Fans mit einer intensiv ausgeprägten Beziehung echte Trauer empfinden, sagte der Medienwirkungsexperte Christoph Klimmt dem Abendblatt.

Zum Glück blieben damals ja noch drei Filme zu erwarten. Mit Argusaugen beobachtete die Generation Potter, wie werkgetreu sie umgesetzt wurden. Als Glücksfall erwies sich, dass die Filme - trotz des US-Filmriesen Warner Brothers als Finanzier - äußerst britisch blieben. Neben den drei gecasteten jugendlichen Hauptdarstellern wuchs einem die Elite der britischen Schauspielerzunft in den Potterfilmen buchstäblich ans Herz: Dame Maggie Smith, Michael Gambon, Helena Bonham Carter, Emma Thompson, Alan Rickman, Robbie Coltrane, Ralph Fiennes (als böser Lord Voldemort). Zu Publikumslieblingen mauserten sich mit den Jahren Rupert Grint (Ron) und sogar Matthew Lewis, Darsteller des anfangs schusseligen Zauberschülers Neville Longbottom, der am Schluss noch eine wichtige Rolle spielt. Nach dem letzten Dreh, berichtete Rupert Grint, habe er geweint. Auch das verbindet die Filmhelden mit der Generation Potter draußen. Noch nie haben deutsche Jugendliche eine Reihe von acht Kinofilmen über zehn Jahre mit denselben Darstellern ihres Alters erlebt.

Es fällt ihnen schwer, in Worte zu fassen, was Harry Potter für sie bewirkt hat. "Ich glaube, ohne ihn wäre ich viel realitätsversessener", sagt Jonas Kaminski. "Die Bücher haben meinen Sinn für Fantasie geweckt. Ich lese heute noch gern Fantasy." Fast alle sagen: Harry Potter hat sie nachhaltig zu Lesern gemacht und das Tor zur englischen Sprache geöffnet. "Damals fingen viele an, sich für Videospiele und Spielkonsolen zu interessieren", sagt Jonas Kaminski. "Ich glaube, dass durch Potter viele zum Buch zurückgekehrt sind."

Buchhändler und Medienwissenschaftler bezweifeln, dass die Pottermania allein auf die Marketing-Macht des Großverlags Bloomsbury in England und des US-Filmriesen Warner Bros. zurückzuführen sei. Der kleine Hamburger Carlsen-Verlag landete mit den deutschen Rechten einen Volltreffer, die Eimsbütteler Illustratorin Sabine Wilharm traf mit ihrem Strich genau den Geschmack der Fans. Was die Generation Potter vor allem gefangen nahm, war eine Geschichte, in der Kinder und Jugendliche nicht perfekt sind, aber eben auch nicht überbehütet. Sie setzen sich selbstständig mit Fragen von Fairness und Anstand auseinander, entscheiden sich für oder gegen Risiken und treten sogar dem Tod entgegen. Pädagogische Zeigefinger oder vordergründige Marketing-Maschen sind wie mit einem Verschwinde-Zauber belegt.

Ingrid Tomkowiak, Professorin am Institut für Populäre Kulturen an der Uni Zürich, sieht im Erfolg der Potter-Romane ein Indiz für einen Langzeit-Trend der "Entgrenzung von Jugendliteratur": In der Fantasy gibt es keine Grenzen zwischen Altersgruppen mehr, die Grenzen zwischen den Medien Buch und Internet verwischen. Und schließlich entfallen die Grenzen zu Superhelden: Nachbarskinder und Freunde werden in der Literatur zu Zauberern, Vampiren, Feen oder Kämpfern und wechseln zwischen Rollen und Welten.

Joanne K. Rowling hat so einen Helden neuen Typs erschaffen, den ersten des dritten Jahrtausends. Für die Generation Harry Potter wird er ihr Held bleiben. "Er ist etwas aus meiner Kindheit, das ich mir immer bewahren will", sagt Amira Elatawna. Selbst wenn sie dann irgendwann doch ihr Harry-Potter-Zimmer umdekoriert und wie geplant Schiffskauffrau wird.