33 Jahre hat Joëlle Boulogne gelebt, um zu tanzen. An diesem Sonntag steht sie in Hamburg zum letzten Mal auf der Bühne
Hamburg. "Heute geht es mir eigentlich ganz gut", sagt Joëlle Boulogne, "heute habe ich trainiert und geprobt, also besser als gestern, gestern war schlimm."
Heute, das ist ein Nachmittag in Hamburg Ende Juni, es ist Sommer, und die Bäume im Garten des Ballettzentrums von John Neumeier tragen frisches Grün. Gestern, das war die Premiere von "Purgatorio" an der Hamburgischen Staatsoper. Es war ihre letzte. Davor und danach hat sie viel geweint. Alles ist derzeit ein Runterzählen im Leben von Joëlle Boulogne: die letzte Premiere, die letzte Hauptrolle, das letzte Solo, das letzte Pas de deux. An diesem Sonntag ist es nun so weit: Bei der Nijinsky-Gala zum Finale der Ballett-Tage wird sie zum letzten Mal auf der Bühne stehen.
Joëlle Boulogne ist 43 Jahre alt. In ihrem Leben hat sie bislang nichts anderes gemacht, als zu tanzen - Tag für Tag, es sei denn, sie war verletzt. Und nun, wenn sie einem gegenübersitzt, an einem Nachmittag im Juni, ist sie genau das, was der Tanz von einem übrig lässt, wenn man ihm alles gegeben hat: nicht viel mehr als ein Hauch. Aber weniger von sich zu geben, das hätte Joëlle Boulogne nicht geschafft. Jetzt nimmt sie mit, was ihr bleibt. Joëlle Boulogne ist sehr dünn, aber trotzdem eine wunderschöne Frau. Wenn man sie fragt, wer sie eigentlich ist, so ganz im Innersten, dann sagt sie: "Ich bin ein kleines Mädchen, das seinen Vater verloren hat."
Vielleicht ist sie genau das immer gewesen, auch auf der Bühne. Zwölf Jahre war sie alt, als sie Halbwaise wurde, und noch heute sieht ihr Körper aus wie der eines Kindes. Ihr Gesicht ist so klein, dass man es in seine Hände nehmen möchte, während sie erzählt. Als Zehnjährige hat Joëlle Boulogne in Cannes mit dem Ballettunterricht begonnen. 1987, im Alter von 19 Jahren, wechselt sie zu den Ballets de Monte Carlo, wo sie 1991 zur Ersten Solistin avanciert - und auf John Neumeier trifft. Vom ersten Moment an gibt es eine Verbindung zwischen den beiden.
Und er überredet sie, nach Hamburg zu kommen. Wo sie noch einmal fast von vorn anfängt: Sie wird Gruppentänzerin, keine Erste Solistin. So weit ist sie erst vier Jahre später. Dann tanzt sie Rollen, von denen sie selbst nie gedacht hätte, dass sie das schaffen würde: Blanche Dubois in "Endstation Sehnsucht", Prinzessin Natalia in "Illusionen - wie Schwanensee", Romola Nijinsky in "Nijinsky" und Marguerite Gautier in Neumeiers "Kameliendame" - wohl nie war Joëlle Boulogne schöner als in diesem Ballett. Sie tanzt darin eine schwer kranke Frau, die unglücklich liebt, und sie tut das so zerbrechlich, so intensiv, dass man ihre Bewegungen als Zuschauer gar nicht erst in Gedanken umsetzt. Sie gehen einfach in einen hinein. Es ist nicht zufällig das große Pas de deux aus der "Kameliendame", das Joëlle Boulogne zu ihrem Abschied tanzt. Es ist ein bisschen ihr eigenes Leben, das sie dann tanzt, die Suche nach Halt, das Zugeben von Schwäche, das Schwanken zwischen Härte und Zerbrechlichkeit. Es ist im Grunde dieses Schwanken, was im Kern auch den Tanz ausmacht, müsste man ihn auf einen Satz reduzieren. Auf die Frage, wie sie eine Premiere tanzen könne, wenn sie den ganzen Tag geweint habe, sagt Joëlle Boulogne: "Aber es ist doch der Tanz, der mir Kraft gibt."
Im Garten des Ballettzentrums versucht sie die Wörter zu wiederholen, die sie John Neumeier sagte, um ihm ihren Entschluss mitzuteilen. Sie schaut auf den Boden. Sie sucht nach ihren Zigaretten. "Ich kann das nicht noch einmal sagen, dann müsste ich weinen", sagt sie, aber da steigen ihr schon die Tränen in die Augen. Sie fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Ihre Finger sind dünn wie kleine Zweige. Noch nie hat ein Tänzer in Worte fassen können, wie es sich anfühlt, von der Bühne zu gehen. Nur die Schatten unter ihren Augen erzählen davon. Nicht zufällig hat sie sich die Hamburger Ballett-Tage als Moment ihres Bühnenabschieds gewählt. Es sind die verrücktesten Tage des Jahres, jeden Abend eine Vorstellung, tagsüber Training und Proben, "man denkt zwischendurch, ich schaffe es nicht, und dann schafft man es doch. Irgendwie schaffen es alle zusammen." Am Sonntag wird das Ensemble Joëlle hinter der Bühne in die Luft werfen, das tun sie immer, wenn einer von ihnen geht. Dann noch eine Feier, Blumen und Geschenke, ein paar Küsschen auf die Wange. "Dieses Gefühl, auf der Bühne zu stehen", sagt Joëlle Boulogne, "ich habe Angst, dass es das nicht mehr gibt, im Leben danach."
Als es ihr im Winter nicht gut ging, ihr Körper sich zwischen den Vorstellungen nicht mehr richtig erholte, hat sie lange überlegt, wie so etwas gehen könnte, ein Leben ohne die Bühne. Sie beschloss, nicht ganz zu brechen mit dem Tanz. "Ich werde versuchen zu unterrichten, ich möchte weitergeben, womit ich so reich beschenkt wurde", sagt sie. Sie wird wohl ins Elsass ziehen, gemeinsam mit ihrem Partner, der zurzeit noch ein Restaurant in Südfrankreich hat. Getanzt hat er nie, die Welt des Balletts ist ihm eine fremde.
Zehn Tage sind vergangen seit dem Gespräch im Garten, die Ballett-Tage neigen sich dem Ende. In der Staatsoper wird "Illusionen - wie Schwanensee geprobt, Joëlle Boulogne steht vor der Tür des Künstlereingangs. Gerade hat sie eine Zigarette geraucht. "Es geht mir gut", sagt sie, "besser als gestern." Die rechte Hand legt sie auf ihren Magen, ob sie nicht essen könne, nein, antwortet sie. Es ist der Stress. "Meine Beine zittern", sagt sie, dann ist sie schon wieder am Gehen. Hinter der Bühne ist es ein großes Gedränge - Kinder wuseln um ihre Lehrerinnen, Spitzenschuhe liegen herum, dazwischen Nähzeug, Kaugummi und Colaflaschen. Zwei Tage sind es noch bis zum letzten Vorhang. Lloyd Riggins ist da, Edvin Revazov, Hélène Bouchet und Thiago Bordin, ihr engster Freund in der Kompagnie.
Nur Silvia Azzoni fehlt. Sie ist 37 Jahre alt, vor zwei Wochen hat sie ein Kind bekommen. Wenn sie eines Tages von der Bühne geht, wird sie eine Familie haben, die sie auffängt. "Nein, einen Kinderwunsch habe ich nie verspürt", sagt Joëlle Boulogne. "Immer wenn es mir schlecht ging in meinem Leben, habe ich getanzt, und dann war plötzlich alles vergessen. Ich weiß, dass das nun wegfällt. Wir Tänzer leben ja in unserer eigenen Welt." Eine Welt, die oft nur aus Training besteht, den Proben und dem eigenen Spiegelbild.
Das Spiegelbild wird Joëlle Boulogne bleiben. Auch ohne den Tanz. Ein Mädchen ist darin zu sehen, das nun erwachsen geworden ist. Und so viel gegeben hat, dass jetzt Schluss sein muss.