Künstler, Bewohner und Nachbarn organisieren auf St. Pauli den Widerstand gegen den geplanten Abriss eines ganzen Gebäuderiegels.
Hamburg. Die Dame im sehr kurzen Kleid kauft Zigaretten und Zeitschriften. Ein Mini-Pudel tänzelt ohne Leine um ihre braun gebrannten Beine, die in Riemchenschuhen stecken. Das Kinn hoch erhoben und mit festen Schritten geht sie durch die Gänge in der Esso-Tankstelle, die innen einem Supermarkt gleicht. Zwei Männer mit Schlips, die im Gang stehen, treten selbstverständlich zur Seite.
"Leben und Leben lassen", so heißt das Theaterstück, das in der Esso-Tankstelle an der Reeperbahn jeden Tag im Jahr 24 Stunden lang läuft. Es ist das Stück, für das Hamburg in der Welt berühmt ist, weshalb Bands wie die Beatles herkamen; es läuft in den Sex-Film-Shops, den Theatern, den billigen Imbissen drum herum. Nun soll der ganze Gebäudekomplex angerissen werden, weil ein bayerischer Investor, der den Block gekauft hat, nicht sanieren, sondern neu bauen will. Das will auch die SPD. Nachbarn, Bewohner und Gewerbetreibende wollen das nicht.
Der letzte Vorhang ist noch lange nicht gefallen. Der Protest der Künstler wächst. Auch der Musiker Ted Gaier ist darunter, er plant Musikalisches: "Eine Platte meiner Band Die Goldenen Zitronen, die sich mit den Esso-Häusern beschäftigt", sagt er. Oder einen Auftritt auf dem Spielbudenplatz. Und er könne sich vorstellen, die Reeperbahn mit einer Kunstaktion zu sperren. "In aufgestellten Buden können Nachtschwärmer sich dann in Unterschriftlisten eintragen", sagt er. Er fordert eine "Stadtteilkonferenz, auf der die Politiker uns Rede und Antwort stehen".
Zladko Bahtijarevic, Betreiber des Planet Pauli Pub und Club und Mitglied der Initiative Esso-Häuser, sagt: "Die Esso-Häuser sind das Herz von St. Pauli. Und sie sind Zeugen einer besseren Zeit." Für ihn haben Neubauten kein Flair. Und daher könne sich ein Kultladen nur im Altbau entwickeln. "Esso ist ein Kunstprojekt", sagt Ted Gaier, der gegenüber der "Tanke" wohnt und ein Transparent aus dem Balkon gehängt hat, auf dem er den Investoren empfiehlt, "kacken" zu gehen.
"Leben und Leben lassen, das heißt, sich gegenseitig zu respektieren", sagt Gaier. Wenn das Esso-Quartier abgerissen werden würde, dann würden "die Mini- und BMW-Fahrer" kommen und Wohnungen kaufen. Und die würden dann ihre Forderungen nach Sauber- und Stromlinienförmigkeit ohne Respekt vor dem Quartier durchsetzen.
Ted Gaier, aber auch die Esso-Haus-Bewohnerin Julia Priani, setzen dagegen auf Kultur. "Zum Verständnis von Kultur gehört, sich Orte zu suchen, Räume zu füllen und sich anzueignen", sagt Gaier: "Die Esso-Tanke ist keine Idylle. aber Leben. Dort ist das Leben. Das ist wie Theater, da können auch nachts mal Menschen rumkrakeelen."
Angeeignet hat sich Ted Gaier auch seine Altbauwohnung. Am Fenster stehen kleine Blechroboter-Spielzeuge, im Zimmer des Sohnes stehen neben einer großen Stoffhöhle Teile eines Schlagzeugs. Gleich drei Arbeitsplätze mit Manuskripten sind eingerichtet. Ein Wasserkelch steht auf einem Tisch, denn Ted Gaier hat auf einem Bügelbrett gerade größere Mengen seiner Wäsche (mit korrekten Falten) gebügelt.
Der Blick aus dem Fenster auf den Spielbudenplatz und die Esso-Tanke ist einzigartig und Anlass für einen Rückblick: "1983 gab es kein Szeneleben auf St. Pauli; man wollte mit dem Stadtteil nichts zu tun haben. Damals habe ich noch als Teddy-Boy von einem Türsteher was auf die Fresse gekriegt; da war's nichts mit leben und leben lassen, da haben die Luden noch Punker gejagt", sagt er. 380 Mark Miete habe er damals für eine Wohnung in der Nähe gezahlt. "Mit Kohleheizung und dem Bad auf dem Flur." Aber das sei eben der Deal der Menschen, die auf St. Pauli leben. "Hier akzeptiert man das Schrottige, zahlt aber einen geringeren Preis." Die erste Wohnung hat er verlassen. "Das Wohnhaus wurde zu Eigentumswohnungen umgebaut, und die Adidas-Jackenträger kamen. Es gab im Haus einen Austausch der Bewohner."
1989 habe es dann plötzlich wieder überall auf St. Pauli coole Musik und coole Leute gegeben. "Und plötzlich wurden wir auch für Bands aus England wieder interessant." Revitalisierung nennt der Musiker dies und meint: "Wir waren nicht im Fokus von Investoren, das ist der große Unterschied. Heute organisiert die SPD den Komplettaustausch auf St. Pauli." Ist das nicht Kiezromantik? "Nein. St. Pauli bedeutet immer einen permanenten Wechsel, es geht darum, Vorgefundenes umzugestalten", sagt er. Anders als es die Käufer nahelegten, könne es nicht das Ziel nachhaltiger Stadtplanung sein, erst Flächen zu kaufen und sich dann zu überlegen, was man daraus macht. Dann sei es aus mit dem Respekt.
Und wieder kommt die Musik als Argument. "Es gibt weltweit keinen Musikklub, der nicht in ein bestehendes Gebäude ging", sagt er. Ohne die Klubs gebe es keine Techno- und keine House-Musik. "Das ist Gesetz." Hat das die Politik nicht gesehen? "Hier wird Politik nach Gutsherrenart gemacht. Andy Grote und Markus Schreiber, der Amtsleiter von Mitte, können sich Politik nicht ohne Investoren denken."
"Mit den Esso-Häusern entscheidet sich die Zukunft von St. Pauli", sagt Andy Grote, Stadtentwicklungsexperte der SPD. Er sieht in den Neubauten eine Chance, in größerem Umfang Sozialwohnungen zu errichten. Grote möchte auch ein Rückkehrrecht für die Bewohner und das Molotow . "Wir werden politisch alles ausreizen, um dieses einzigartige soziale Biotop trotz Abriss zu erhalten."