Die Premiere des Lindenberg-Musicals “Hinterm Horizont“ begeisterte das Publikum mit Gesang, Schauspiel und DDR-Geschichte.
Berlin. Ein Satz vorweg, weil er einfach raus muss: "Hinterm Horizont", das Udo-Lindenberg-Musical über das Mädchen aus Ost-Berlin, ist hinreißend. Eine großartige Liebesgeschichte über Herz, Schmerz, Verrat und Verlust. Eine tolle Show, großes Theater und ein ziemlich gutes Rock-Konzert. Und ich sage das, obwohl ich keine Musicals mag und auch kein Lindenberg-Experte bin.
Doch was da auf der Bühne des Theaters am Potsdamer Platz gezeigt wird, wo "Hinterm Horizont" gestern Abend eine umjubelte Premiere feierte, ist witzig, fantastisch gespielt und gesungen, mitreißend und echt berührend. Es ist nicht zu viel verraten, wenn man sagt: Die Lindenberg-Lieder und die von Thomas Brussig geschriebene Geschichte über das Leben und den Zusammenbruch der DDR haben manch einem Zuschauer Tränen in die Augen getrieben. Und wann passiert das schon mal im Theater? Mein Nachbar, ein nach viel Testosteron aussehendes Exemplar von Mann, sagte hinterher: "Ich musste echt heulen. Seit Sommer '89 lebe ich in Hamburg, bin noch über Ungarn geflohen. Aber heute Abend ist alles wieder hochgekommen. Mein Leben in der DDR, in einem Land, für das ich mich bis heute schäme."
Was also haben Regisseur Ulrich Waller und sein Ensemble gemacht, damit "Hinterm Horizont" keine seelenlose Nummernrevue, garniert von ein bisschen Choreografie geworden ist, sondern ein Abend mit Schmackes, der wirklich gute Laune macht? Zunächst einmal ist Thomas Brussig eine tolle, authentische Geschichte gelungen: Udo Lindenberg, der immer schon an ein vereintes Deutschland glaubte, der von den Fans in der DDR kultisch verehrt wird, trifft nach seinem legendären Konzert in Ost-Berlin Jessy. Beide verlieben sich, treffen sich in Moskau wieder, Jessy wird schwanger, davon erfährt Udo 23 Jahre später. Das ist das Gerippe. Drum herum wickeln sich Alltagsszenen mit Jessys Familie, Proben mit dem FDJ-Chor, eine Versammlung der DDR-Minister, sächselnde Stasi-Agenten, ein Konzert von Udo Lindenberg in Moskau und ein Besuch im Hotel Atlantic in Hamburg.
Alles wirkt authentisch, vieles wirklich komisch. Jessys Familie sitzt in einer so bunt ausgestatteten 80er-Jahre-DDR-Wohnung, dass es einen schüttelt. Was die alle für Frisuren hatten! Modell Wischmop im Wachstum. Komischerweise hatte man zuvor im Foyer viele Menschen gesehen, die zwar heute eine andere Frisur tragen, dafür aber immer noch Wollpullunder in Schlammfarben mit einer angesteckten lilafarbenen Stoffrose kombinieren - und braunen Netzstrümpfen. Und auf jeden Fall Pailletten. Der männliche Begleiter übrigens im Rautenpulli und ausgelatschten Schuhen. Ja sehn Se, dit is Berlin!
Der Abend beginnt mit überlebensgroßen Filmeinspielungen vom Mauerbau, von verzweifelten Menschen und versteinerten Vopos. Auch später werden Filmeinblendungen gekonnt den Abend begleiten: Militärparaden, Flüchtende, Protestler - nichts wirkt aufgesetzt, alles passt geschmeidig zum Bühnengeschehen. Und wenn der Vorhang aufgeht und "Das Mädchen aus Ost-Berlin" als erster, wuchtig begleiteter Song gesungen wird, ist man schon mittendrin in einer fröhlichen, immer auch ein wenig melancholischen Stimmung. Anika Mauer, die die erwachsene Jessy spielt, beweist später noch, was für eine tolle Stimme sie hat. Josephin Busch, die die junge Jessy spielt, hat die Anmut und Beherztheit, die Unverdorbenheit und innere Stärke einer Julia, wenn sie sich in Romeo verliebt. In ihrem Bruder Elmar, den Christian Sengewald herrlich als Hardcore-Lindenberg-Fan spielt, der gegen die spießigen Eltern aufbegehrt, hat sie einen wunderbaren Verbündeten.
Und dann bekommt man, wie in Chaplins "Der große Diktator", den ganzen Ossi-Staat parodiert. Die Typen nehmen sich furchtbar ernst und sind darum so lächerlich. Der Minister (Rainer Brandt) kann keine Fremdwörter und ist komplett vercheckt, lässt sich dann von einer Ex-Primaballerina die Dekadenz von Udos Körpersprache erklären und von einem "Genossen Professor" dessen Rhetorik. Am Ende kommt heraus, dass Udo nichts kann. "Aber im Nichtskönnen lassen wir uns von keinem was vormachen", brüllt er, "da sind wir Spitze." Wie die DDR so lange existieren konnte, wie die Leute das ausgehalten haben, man glaubt es heute kaum. Aber Regisseur Waller und sein Ensemble tragen nie zu dick auf. "Dezenz ist Schwäche" heißt es zwar im Theater, beim Musical ist sie Trumpf und funktioniert bestens. Lieder wie "Boogie-Woogie Mädchen", "Odyssee" oder "Bis ans Ende der Welt" hat man bis hierhin gehört, und alles passt: jeder Ton, jede Stimmung, jede Stimme.
Herausragend spielt Serkan Kaya den Udo. Selten mal als nuschelnden Klon - was er großartig kann -, meist jedoch als Rocker: verliebt, fröhlich, unangepasst und lässig. So, wie man sich einen Star und ein Idol wünscht. Wenn Udo und Jessy sich in Moskau treffen, tanzen Ballerinen, Omas mit Wodkaflaschen oder Kerle mit Russenmützen um sie herum. Und wenn der 9. November kommt und man Filmszenen vom Durchbruch der Mauer sieht, wenn sich auf der Bühne Jessy und Elmar wieder treffen, dann ist man echt gerührt. Und mancher vielleicht sogar geschüttelt.
Ja, der Abend ist wirklich schön. Er hat etwas, was jeden berührt, Ossis, Wessis, Männer, Frauen. Und am Ende kommt mit "Andrea Doria" auch wieder richtig gute Stimmung auf.
Im Sonderzug nach Berlin: Am 10. April organisiert das Abendblatt eine Extra-Fahrt zum Musical "Hinterm Horizont". Tickets in vier Preisklassen (103,88 bis 144,36 Euro) gibt es unter T. 30 30 98 98.