Warum ist Philipp Otto Runges Hauptwerk “Der große Morgen“ so bedeutend? Annäherung an ein schwer zu entschlüsselndes Bild

Hamburg. Wie lässt sich die Zeit in Symbolen, Formen und Bildern erfassen? Die Abfolge der Tageszeit, der Wechsel der Jahreszeit, die unaufhaltsam verrinnende Lebenszeit? Für den Maler Philipp Otto Runge war das die zentrale Frage seines künstlerischen Nachdenkens und Schaffens. In einem Brief vom 9. März 1802 schrieb er, dass er "Symbole unsrer Gedanken über große Kräfte der Welt" finden wolle.

Das bedeutsamste Ergebnis dieser lebenslangen Suche ist das Gemälde "Der große Morgen", das jetzt als Zielpunkt einer Sichtachse in der Runge-Ausstellung in der Galerie der Gegenwart zu sehen ist.

Dieses späte Hauptwerk des früh verstorbenen Romantikers ist unvollendet geblieben und zudem verstümmelt worden. Trotzdem entfaltet das 152 mal 113 Zentimeter große Bild eine beträchtliche Wirkung, nur entschlüsseln lässt es sich schwer. Was bedeutet die nackte Schönheit im Bildzentrum? Was hat es mit den Genien und Putten auf sich, die in geometrischer Ordnung gegeneinandergestellt sind?

Die Forderung des Klassizismus, der Künstler müsse die Antike und die Natur nachahmen, lehnte Runge rigoros ab. Ihm ging es vielmehr darum, Kunstwerke zu schaffen, die sich auf sich selbst beziehen. Er konstruierte und montierte sie aus zahlreichen Elementen, die jeweils vielfache Bedeutungen haben. So ist die nackte Frauenfigur im Zentrum des "großen Morgens" einerseits die Mutter Maria, sie ist aber zugleich die römische Schönheitsgöttin Venus, als Sophia die Verkörperung der Weisheit und Aurora, die Göttin der Morgenröte. Christentum, Antike, und eine von Jakob Böhme inspirierte Naturphilosophie sind hier in einer Figur vereint, die im Zentrum eines minutiös konstruierten Bildes steht, in dem Runge die ganze Welt auf einen Nenner zu bringen versucht: Das neugeborene Kind liegt im Bildvordergrund im Glanz der Morgenröte und wird von Genien verehrt und behütet. Es symbolisiert den reinen Ursprung des menschlichen Geschlechts, hat aber kaum mehr etwas mit dem christlichen Schöpfungsgedanken gemein. "Alle Kunst ist allegorisch. Wir fügen zusammen, wir suchen dem Einzelnen einen allgemeinen Sinn anzuheften, und so entsteht die Allegorie", schrieb Runge, für den "Der Morgen" nur ein Element eines viel größeren Projekts gewesen ist. Jahrelang zeichnete er an den "Zeiten" - Kompositionen, die ursprünglich nur als Raumdekoration dienen sollten. 1808 fügte er diesem Projekt schließlich die Farbdimension hinzu, indem er den "kleinen Morgen" als Ölgemälde ausführte.

Das System der bedeutungsschweren Figuren, Formen und Symbole wurde dabei immer komplexer und beschränkte sich nicht mehr auf das eigentliche Bild, sondern bezog auch den Rahmen als eigenständigen Bild- und Bedeutungsträger mit ein.

Dabei ging es Runge nicht um einen Zyklus von einzelnen Bildern, sondern um etwas, was nie zuvor ein Künstler geplant hatte: eine Art Tempel der Kunst, in dem die sechs Meter hoch geplanten Bilder den monumentalen Rahmen für Musik und Dichtung herstellen sollten. Jahrzehnte bevor Richard Wagner den Begriff des Gesamtkunstwerks prägte, schwebte Runge bereits die Verbindung von Malerei, Musik und Literatur vor.

Dieses visionäre Kunstprojekt ist Fragment geblieben, und "Der große Morgen" ist zum Fragment gemacht worden: Noch auf dem Sterbebett bat Runge 1810 seinen Bruder Daniel, das Bild zu zerstören, ließ sich aber doch noch umstimmen. So blieb es im Familienbesitz, bis es Carl Ferdinand August Meissner, der Schwiegersohn von Runges Sohn, zerschnitt. Meissner löste alle Figuren aus der Komposition heraus, wodurch neun Teilstücke entstanden, die dazwischen liegenden Partien aber verloren gingen. Diese Fragmente schenkte er Ende des 19. Jahrhunderts der Hamburger Kunsthalle. Erst 1927 ließ der damalige Kunsthallen-Direktor Gustav Pauli die Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammenfügen, wobei die Fehlstellen durch neutrale Grautöne ergänzt wurden.

Ist das Erlebnis des Gemäldes in seiner ganzheitlichen Qualität dadurch wieder möglich? Ausstellungskurator Markus Bertsch verneint das: "Jeder Versuch, diesen Eindruck durch eine Rekonstruktion zu simulieren - ob als Gemälde oder auf digitalem Wege -, vermag dies nicht zu leisten." Umso erstaunlicher ist es, welche Wirkung selbst das zerstörte Kunstwerk zu entfalten vermag.

Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik, Kunsthalle, Galerie der Gegenwart bis 13.3.2011, Di-So 10-18, Do bis 21 Uhr