András Siebold, Leitender Dramaturg auf Kampnagel, beschließt die Abendblatt-Serie über Kreative hinter den Kulissen
Hamburg. Was haben Dramaturgen und Kondome gemeinsam? Ohne ist schöner, mit ist sicherer. Spätestens nach diesem aparten Witz zum Einstieg ins Gespräch wird klar - András Siebold ist ein Guter. Gute können auch vor anderen mühelos über sich selber lachen.
Es gibt Kollegen von ihm, die sind theorieummantelte Fachidioten, weitgehend humorfrei und womöglich auch noch stolz drauf. Und es gibt Praktiker wie ihn, die sind zur Überraschungseier legenden Wollmilchsau geboren. Man muss sie nur machen lassen.
Im Personalverzeichnis von Kampnagel wird der 1976 in Zürich geborene Schlaumeierbrillenträger seit drei Jahren als "Leitender Dramaturg" geführt. Das klingt gut und staatstheaterkompatibel, sagt aber eigentlich nichts Konkretes darüber, wofür die rechte Hand von Intendantin Amelie Deuflhard in deren "Zentrum für schönere Künste" sein Gehalt bekommt. Siebold ist der größte Trumpf in Deuflhards Ärmel, die ihn aus Berlin mitbrachte, als sie von den Sophiensaelen zu Kampnagel wechselte.
"Im Prinzip bin ich für das gesamte Programm mit zuständig", erklärt er. "Ist aber ein bisschen verzwickter", kommt gleich hinterher. Deswegen fühlt er sich auch eher wie ein Kurator an einem Museum. Ein Ermöglicher, Kümmerer, Strippenzieher, Leuteanrufer und Künstlerflüsterer. Er hat Deichkind eine "Diskursoperette" aufführen lassen, in der "Barocklounge" Alte Meister mit jungen DJs kombiniert. Es gibt handverlesene Songwriter, gewagte Off-Theater-Konstellationen. Reichlich von dem eben, was es sonst nicht gibt in der Stadt. Kampnagel ist für Siebold eine Art "Durchlauferhitzer", in dem Produktionen im Idealfall viel mehr sind als nur die Summe der teilnehmenden Künstler. "Wenn ich Zeit genug hätte, könnte ich das ganze Jahr um die Welt reisen, auf Festivals Produktionen ansehen oder hier in Hamburg Leute treffen. Das Problem ist nur, dass wir hier auch ein Haus zu verpflegen haben. Und das läuft nicht, wenn man nicht da ist." In Siebolds iPhone stecken etwa 1100 Kontakte. Aber nur weil er nie dazu kommt, alle einzutragen.
Das Beste, was man tun kann, um im Gespräch mit dem Mittdreißiger von einer Kultursparte in die nächste geworfen zu werden: einfach laufen lassen. Einfach mal fragen, was er so tut, und vor allem: Warum? "Mein ganzes Leben war der Versuch, aus so etwas wie Spartendenken herauszukommen. Warum soll man nicht mit der gleichen Faszination eine Wagner-Oper ansehen und die spezifische Überwältigung genießen, wie man sich in einem Klub von elektrisierenden Beats durch die Nacht treiben lässt?" Diese Offenheit, findet er, entspricht an mehr und mehr Orten auch der Realität.
Seine Festlegungsschwäche ist Siebolds größte dramaturgische Stärke. Der Mann hat zu viele Interessen. War immer schon so, gibt er unumwunden zu. Zeitgenössische Kunst, Theater, Literatur, Klassik, Popmusik im ganz weiten Sinne. Siebold hat unter anderem Philosophie, Kultur- und Musikwissenschaft anstudiert. Das Grau der vielen Theorien färbte allerdings schnell das kunterbunte Hier und Da der vielen Jobs ein, die ihm immer irgendwie zuflogen. Immer rief ihn jemand an, nahm ihn mit, fragte ihn um Rat.
Er war fast ein Jahr lang Assistent von Robert Wilson, also ein "seltsamer Zwitter aus Privatsekretär, Lebensorganisator und psychologischer Anlaufstelle", beschreibt Siebold rückblickend. "Der muss ja auch mal über seine Probleme reden. Das macht man eine Zeit lang, und dann ist auch wieder gut." Gut war, dass dann die Anfrage der US-Fotografin Nanu Goldin kam, ob er nicht ihr Studio in New York managen wollte. Klar wollte Siebold. Danach zurück nach Berlin, eine Galerie leiten, bis der Regisseur Stefan Bachmann sich meldete und vorschlug, bei ihm am Theater Basel Dramaturg zu werden.
Etwas Ruhrtriennale zwischendurch, um anschließend über die nächste Kunstproduktionsmauer zu hüpfen: Staatsoper Unter den Linden, vier Jahre Dramaturg, unter anderem auch für die spektakuläre "Tristan"-Inszenierung von Bachmann und Daniel Barenboim, bei der die Elbphilharmonie-Architekten Herzog & de Meuron 2007 das Bühnenbild unter eine flexible Plastikmembran packten. "Ein visionärer Versuch, mit Oper anders umzugehen", schwärmt Siebold heute noch.
Das Thema einer zielgerichteten akademischen Laufbahn hatte sich beim vielen Hakenschlagen längst erledigt. "Als ich meinen 40. Praktikanten mit abgeschlossenem Studium hatte und mit vier meiner Professoren zusammenarbeitete, hab ich mir schon mal die Sinnfrage gestellt", berichtet Siebold mit dem vielsagenden Hauch eines Lächelns. "Für den Job, den ich mache, gibt's ja keine normale Ausbildung. Das war eine bessere Schule, als ich sie je an der Universität hätte kriegen können." Dann eben kein Jodeldiplom.
Für Siebold, der sich diebisch über die Idee freut, Schlingensiefs Kampnagel-Gastspiel "Via Intolleranza" auch in der Hauptstadt plakatiert zu haben, um die Szene dort etwas zu ärgern, ist Hamburg eine nervenschonende Abwechslung. In Berlin sei er fast wahnsinnig geworden, weil er sich ständig zwischen den vielen Veranstaltungen entscheiden musste. "Das Erste, was ich an Hamburg bemerkte habe: Hier gibt es nicht diese Unruhe beim Ausgehen. Das fand ich sehr angenehm. Man kann sich auf eine Sache konzentrieren und hat nicht diesen Kulturstress. Der führt ja auch zu nichts. Man hat ja keinen besseren Abend durch das Hin-und-her-Hetzen." Na danke. Kulturprovinz ist also auch schön? "Das ist ja keine Provinz hier", kontert er. "Hamburg muss sich aber nur mal auch so verhalten."
Sind klamme Zeiten wie diese besonders gute oder besonders schlechte für die Kultur? Da wird Siebold mühelos grundsätzlich. "Je mehr der Rotstift droht, desto lauter muss man werden und Diskussionen anheizen, warum man überhaupt Kultur braucht. Was macht denn eine Stadt lebenswert? Dass man besonders teure Bürokomplexe hat und die Innenstädte aussehen wie hier der Neue Wall nach 20 Uhr?"
Für die Dramaturgen-Fee, die ihm mal eben einen Wunsch erfüllen würde, hat Siebold sofort eine Idee parat: einen Abend des Experimental-Choreografen Jerome Bel mit der Sopranistin Anja Silja. Fast hätte er das auch schon geschafft, die beiden zusammenzubringen. Wirkt nicht so, als ob er es bei dem einen Anlauf belassen wollen würde.
Siebolds Lebenslauf hat also etwas von einem Zirkeltraining zwischen den Kunstsparten. Dann wäre bald wieder eine Galerie dran? "Das weiß ich nicht. Ehrlich gesagt, ist Kampnagel die Konsequenz aus allem, was ich bisher gemacht habe. Und ich habe hier viel größere Freiheiten, als ich sie je an der Lindenoper hatte."
Nur auf die Frage, wie man bei so vielen Interessen abschaltet, hat Siebold keine Antwort parat. "Man hat nie Feierabend, man sampelt und mixt ja die ganze Zeit. Es gibt so eine unstillbare Energie. Das ist eigentlich auch ein ganz furchtbarer Zustand. Man ist Getriebener, hat sich einmal in diese Kunst reingegraben. Und dann ist's aus. Das ist wie eine Droge, ab einem gewissen Level gibt's kein Zurück mehr. Oder kennen Sie einen, der das geschafft hat?"