Im Dezember 2007 saßen wir zusammen bei einer kleinen Vorweihnachtsfeier im Burgtheater und Christoph Schlingensief hatte (wie so oft) den Charme eines jungen Mannes und Lieblingsschwiegersohn. Ich machte ihn mit Luk Perceval, dem künftigen Oberspielleiter des Thalia Theaters bekannt, die beiden tauschten Adressen aus. Tags drauf fuhr der Nichtraucher Schlingensief nach Nepal, um an seinem lebenslangen Parsifal-Projekt weiterzuarbeiten. Als er Ende Januar zurückkam, klagte er über Unwohlsein. Aus einer vermuteten nepalesischen Grippe wurde die Diagnose Lungenkrebs.
Frank Baumbauer am Hamburger Schauspielhaus war Ende der Neunziger Jahre der erste, der Christoph Schlingensief jenseits des subkulturellen Berliner Biotops einlud, bald folgte Christoph Marthaler in Zürich und eben wir am Burgtheater, wo ich ihn für eine Jelinek-Uraufführung ins Gespräch brachte und fortan mit ihm als Dramaturg zusammenarbeitete. Wir luden Christoph Schlingensief ein, das Burgtheater zu gestalten, wie er wollte. So kam über die Jahre zu drei großen und auch größenwahnsinnigen Aufführungen: Die erste war „Bambiland“ (2003), wo er Elfriede Jelineks Abscheu vor der medialen Verwertung des Irak-Kriegs zu einem radikalen multimedialen Gesamtkunstwerk verarbeitete. Es gehörte damals noch recht viel Mut dazu, das Burgtheater mit seinen über 1000 Plätzen einem Radikalkünstler wie Schlingensief zu überlassen. Der Erfolg nach landläufigen Kategorien war keineswegs sich.
Ich erinnere mich ungern, aber deutlich daran, dass wir die Vorstellungen hasenfüßig aus dem Abonnement genommen haben, ich erinnere mich aber genauso deutlich und mit erheblich mehr Vergnügen daran, dass die Wiener Abonnenten sich empörten, weil sie den Abend unbedingt sehen wollten. Zwei Jahre später folgte dann „Area 7“, eine Aufführung, die das Burgtheater noch radikaler umgestaltete und in Besitz nahm: Draußen auf der imperialen Feststiege sang Patti Smith„My Father, My Father, In the sea I wept with shame, For unconquered dreams, as life drained“, während sich drinnen die riesengroße Drehbühne in einen labyrinthischen Installationsraum verwandelte, den die Zuschauer erwandern und erschnüffeln konnten. Überdies war der gesamte Zuschauerraum voll mit weiteren Bühnen und Drehbühnen und Unmengen von beweglichen Bildern zugebaut, um Schlingensiefs afrikanischen Traum von Welterforschung als radikales Gesamtkunstwerk sichtbar werden zu lassen. Wieder und abermals gab es unendlich viele Parsifalassoziationen mit Bildern aus Nepal, Island und Afrika, wie sich überhaupt das Thema des revoltierenden Kindskopfs und Heilssuchers Parsifal seit seiner Inszenierung in Bayreuth (2004) immer mehr in den Vordergrund schob, sich mit Schlingensief selbst und der Christus-Mythologie verband. Schon „Area 7“ hieß im Untertitel „Eine Matthäusexpedition von Christoph Schlingensief“, So dass schließlich sein künstlerisches Vermächtnis, das ich planerisch noch mit vorbereitet habe, seine „Mea Culpa“ (2009) Aufführung. Mitgearbeitet habe ich daran nicht mehr, das Thalia-Theater musste vorbereitet werden…
Christoph Schlingensief war ganz sicher einer der Radikalsten, weil er ein Bastard war: Ein Theaterregisseur, ohne einer zu sein. Ein politischer Künstler, ohne sich im Politischen zu erschöpfen, ein religiöser Mensch, ohne sich auf Heilswege zu begrenzen. Einer der genau wusste, dass die Macht der Bilder noch hinfälliger ist als das Leben selbst, und der gerade deswegen umso manischer Bilder, Bilder, Bilder produzierte. Und: Ein Anarcho-Clown, bei dem das Lächerliche und das Pathetische eine kaum dechiffrierbare Mischung eingingen. Ein Gesamtkunstwerker, der auf keinen Fall ein perfektes Gesamtkunstwerk wollte. Im Grunde war für ihn jede seiner Arbeiten nur die Vorbereitung der nächsten, nicht aber der Abschluß des Bisherigen.
So entstand eine ungeheure Überforderungsenergie, für ihn selbst, für seine Mitstreiter und auch für das Publikum. Daß er sich selbst überforderte, gehörte dazu, er konnte sich seine Kunst nicht ohne sich selbst denken. Seine Träume, seine Familie, den Tod seines Vaters, alles hat er radikal in seine Abende, in sein Denken und Reden eingearbeitet – es ging gar nicht anders. Folgerichtig war, dass er in den letzten zweieinhalb Jahren auch die Bedrohung durch den Tod zum Thema machte, mit Witz und Biß, ohne Larmoyanz, Schmerzen und Ängste dennoch radikal veröffentlichend. Vor ein paar Monaten hat er den Zuschauern im Hamburger Thalia-Theater dreieinhalb Stunden lang von seinen Erfahrungen erzählt: Afrika und der Krebs – für ihn war alles eins, Teil eines unendlichen Weltenstroms von Werden und Vergehen. Am Schluß wollte er, der nie etwas Bleibendes schaffen wollte, doch noch etwas hinterlassen: sein afrikanisches Opernhaus. Hier sollte sich – seiner Hoffnung nach - das ausgelutschte Europa am kreativeren afrikanischen Virus infizieren.
Daß Christoph Schlingensief durch seine Todesnähe plötzlich Akzeptanz bei Leuten bekam, die sich zuvor nie für seinen „Schmuddelkram“ interessierten, hat mich eigentümlich berührt. Er hatte eine Radikalität im Denken und künstlerischen Schaffen, die beispiellos ist. Künstlerisch arbeitenden Menschen, im Grunde aber allen, kann dies nur eins bedeuten: sich so radikal und subjektiv wie nur irgend denkbar auszudrücken – ob nun laut oder so leise, das ist egal, darauf kommt es nicht an. Denn das Leben ist kurz. Und wir können nichts anderes, als es zu leben. Ob wir jung sind oder alt, gesund oder krank. Darin war Christoph Schlingensief ein Beispiel, ob in seiner Heimatstadt Oberhausen oder als Parsifal in Afrika unterwegs….