Bei der vierten Ausgabe des Dockville-Festivals trafen junge Musikfans auf alte. Man könnte auch sagen: die Spaßguerilla auf die Heimschläfer
Hamburg. Vorfreude auf Dixieklos, Schlangen an den Verköstigungsständen und Gedränge vorm Gelärme klingt im Alten Elbtunnel wie das von den gefliesten Wänden der Röhren zurückprallende Dauerklingeln vorfreudiger Pennäler. Der Radweg zum Dockville-Festival war reichlich frequentiert am Wochenende, und längst nicht nur die Jugend nahm die Unterwasser- und Überland-Route, diese fuhr schon angemalt und kostümiert zum, ja: Treffen der Generationen. Aber der Modus festivalendi der Jüngeren und Älteren unterschied sich doch beträchtlich.
Man konnte die Dockville-Besucher ja gut identifizieren, als sie Sonnabend früh mit ihren Festivalbändern in Schanzencafés und Parkwiesen entspannten, während die auf unendlichen Spaß gepolte Amüsierarmada der jüngeren Jahrgänge in Wilhelmsburg campierte. Heimschläfer versus Spaßguerilla, so lautete das Motto von Dockville 2010. Oder sagen wir's anders: Heimschläfer und Spaßguerilla, vereint in einer Menge von 20 000 Menschen vor den Bühnen Dockvilles, denn die Grenzen zwischen den Musikgeschmäckern sind ja doch fließend.
Im Zuge immer länger währender Jugend ist er schmal, der Definitionsgrat zwischen sogenannter Erwachsenenmusik und Trendkrawall. Zur Musik, die stärker zum Zuhören denn Zudröhnen animierte, zählten die Diskursrocker Mutter am Sonntag. Wer es weniger sperrig, mehr sprachspielerisch mochte, dem gefielen am Freitagabend Wir sind Helden. Fans und Band hatten sich drei Jahre nicht gesehen. Judith Holofernes ist jetzt Mutter von zwei Kindern. Erwachsen eben. Die Frontfrau und ihre fünf Live-Mitspieler taten gut daran, zunächst mit alten Krachern wie "Denkmal" an vertraute Bande anzuknüpfen. Und die Sängerin twistete und armruderte über die Bühne, als habe man einen Fisch nach langer Trockenphase zurück ins Wasser geworfen.
Wie sich generationenübergreifend musizieren lässt, zeigte die Formation Kitty, Daisy & Lewis. Zwei Schwestern und deren Bruder (mit der perfektesten Haartolle seit Elvis), alles Multiinstrumentalisten, intonierten Rock 'n' Roll, Blues und Country, Vater und Mutter Durham bearbeiteten Kontrabass und Gitarre. Die Damen in stilechten Kurvenkleidern und Herren in schnieken Anzügen nahmen es gelassen, als ein Fan im Borat-Kostüm aus Klebeband die Bühne enterte. Größer konnte der Clash zwischen Retro- und Hypekultur kaum ausfallen. Aber Dockville ist Vielfalt, ist Kontrast. Gut so.
Ja, die Vielfalt: "Mal heiß, mal fettig, kalt, labbrig, knusprig, egal. Irgendwie immer geil. Ich glaube jeder mag Pommes. Jeder", heißt es im Hamburger Roadmovie "Absolute Giganten". Und was für Pommes (das Standard-Futter auf Festivals) gilt, stimmte auch bei Bands wie Shantels Bucovina Club Orkestar aus Frankfurt und Friska Viljor aus Stockholm. Beide Formationen sind in schöner Regelmäßigkeit in Hamburg und bei den umliegenden Festivals zu Gast, sei es mit Band oder mit DJ-Sets. Man könnte also schon leicht genervt sein. Aber sobald Shantel und seine osteuropäischen Tuba- und Akkordeon-Freunde "Disko Partizani", "Disco Boy" oder "Bucovina Original" schmetterten, musste einfach getanzt werden. Und Friska Viljors hemdsärmelig herausgerotzte Gassenhauer Marke "Wohlwill" waren auch erneut über jeden Zweifel erhaben. Zwei Nummer-sicher-Bands, die auf einem Festival-Programm nie verkehrt sind, wenn die bestimmende Silbe "Fest" sein soll.
Aber auch Feuilleton-Lieblinge wie die feingeistige Schweizerin Sophie Hunger wirkten überraschend wenig deplatziert auf der Vorschot-Bühne. In großer Besetzung, mit drei Gitarren, Schlagzeug, Klavier, Bass und verzerrter Posaune, setzte Emilie Jeanne-Sophie Welti (ihr bürgerlicher Name) mit ihrer Band Stein um Stein auf eine filigran arrangierte, aber mächtig aufgedrehte Wall of Sound. Das war große Kunst, die nicht im allgemeinen Getümmel unterging wie die Installationen der umtriebigen Dockville-Kunstabteilung.
Vielleicht lag es daran, dass es weniger interaktive Installationen wie die Beatbox-Wippe im Vorjahr gab, jedenfalls setzte sich das Geistige schwer durch. Auffälligste Performance: ein Hubschrauber, der am Sonnabend einen geheimen Stargast einflog und in eine VIP-Limousine spuckte. Allerdings war das nicht die Ankunft von US-Diva Uffie, wie später im Pressecamp gemunkelt wurde (Uffie stand bei der Landung schon auf der Bühne), sondern eine aufwendig inszenierte Satire des "Sigmund-Lachs-Instituts für haptische Arithmetik" auf den VIP-Wahn der gängigen Glamour- und Medienevents.
Gar nicht satirisch war die Zufriedenheit von Dockville-Pressemann Jean Rehders, er freute sich über die "perfekte Geländeaufteilung". Nächstes Jahr wolle man die Hallen einreißen - das Dockville bleibt also im Wandel. Wie die Fans: Sie inszenieren sich gerne selbst, die Spaßguerilla hatte Hochkonjunktur beim Dockville. Der Wille zum Amüsement, zum Ausbrechen aus den Grenzen des Alltags, war augenfällig - und fand selbst dann kein Ende, als Jan Delay gestern Abend bei Regen, Blitz und Donner spielte, als wäre es ein lauer Sommerabend.
Festival-Kriegsbemalungen, mit dem Permanentmarker aufgetragene Parolen und Zeichnungen schmückten gefühlt jeden Zweiten. Auf dem Festival feierten als Wrestler, Charleston-Tänzerin oder Sansobär kostümierte Besucher, und die Inszenierung fand ihr Spiegelbild auch auf der Bühne. K.I.Z. bewarf ihr Publikum mit Spielgeld und Daunenkissen, HGich.t spielte mit sprachlichen Tabus und brachte die Menge zum Kochen. Bonaparte hat jede Kostümwerkstatt Berlins geplündert, und Frittenbude hatte mal wieder etwas mitgebracht: "Bass, Bass, Bass!" Die Musik wurde zur Nebensache, die Auflösung der sonst beachteten Regeln Maßgabe des Augenblicks.
Und damit konnte nicht jeder umgehen. Dort, wo noch am Nachmittag mehrere Hundert Zuhörer beim Poetry-Slam Beifall für besonders kreativen Umgang mit Worten spendeten, brannten nachts Autos. Keine Privatwagen, sondern schrottreife Fahrzeuge, die im Zuge des "Lüttville" von Kindern dekoriert wurden. Der viel gelobte Augenblick wurde zur Schrecksekunde, als Qualmwolken gen Himmel stiegen.