Ingo Metzmacher und Jonathan Meese machen die Uraufführung der Oper “Dionysos“ zu einem Gesamtkunstwerk
Salzburg. Dass ein Teil der auf zwei Sänger verteilten Hauptfigur lediglich "N" genannt wird, ist ein ziemlich leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver. Es macht nur noch deutlicher, wie sehr dieses Stück auf das Innere seines Schöpfers zeigt. Denn dieses Bühnen-Ich ist kein anderer, "N" steht nicht nur für Nietzsche, es ist auch Wolfgang Rihm, ist Jonathan Meese, ist Ingo Metzmacher, ist Musik, ist Bühne. Ist Zeit und Raum, Leben und Tod. Das verdammte Alles und das drohende Nichts hinter dem Tod von Gott, darum geht es in dem Monstrum "Dionysos".
Es ist eine große Wundertüte, ein berauschend verstörendes Fragezeichen aus Symbolen, Andeutungen, Bildrätseln und Klangchiffren. Die erste, einhellig bejubelte Musiktheater-Premiere dieser Salzburger Festspiele gleicht einem schockierenden, erfrischenden Kopfsprung ins Eiswasser. Ein leeres Blatt im letzten Dezember, damit fing alles von vorn an. Der Avantgarde-Routinier Rihm war, nach Hunderten vollendeter Werke, zurück am Nullpunkt seiner Entwürfe und hörte in seiner Fantasie lediglich amüsiertes Frauenlachen.
Knapp sechs Monate später war daraus eine Opernfantasie in vier Abschnitten entstanden, die keine Erzählrichtung von A nach B erkennen lassen. Eine Umdeutung der "Dionysos-Dithyramben", jener Gedichtbrocken, die Nietzsche noch vom Rande des eigenen Wahnsinns aufs Papier warf. Schon im Urzustand locken diese Fragmente mit ihrem verzweifelten Geraune über Mythen, Götter und Verlorenes ihren Leser weit auf das Meer der Assoziationen. Rihm nahm die "absurde Dichtung zwischen Ezra Pound und Karl Valentin" als Rohling, aus dem er ein neues Sprachpuzzle drechselte. Ironie am Rande: Eigentlich hätte diese Premiere längst an der Elbe stattfinden sollen.
Ingo Metzmacher, damals noch nicht mal Hamburger Generalmusikdirektor, aber durch die Uraufführung der "Eroberung von Mexiko" 1992 bestens qualifiziert, hatte Rihm vor 15 Jahren die Zusage abgerungen, sich für eine Vertonung an Nietzsches späte Texte zu wagen. Gesagt, aber: geschoben. Immer wieder. Auch aus Amsterdam, dem nächsten Anlauf, wurde nichts. Nietzsche war zu fern, weil zu nah. Dass jetzt die Arbeiten an der Umsetzung mitunter weiter gewesen sein dürften als die an der Partitur, hat den gemeinsamen Schaffensprozess offenbar beflügelt. Nicht nur Rihm ist seit Langem Nietzsche-Fan, auch der Künstler Jonathan Meese kann sich immer wieder in dessen Gedanken verlieren und neu (er-)finden, ohne sich von strikten Vorgaben auf die möglichst praktische Bebilderung einer Idee einengen zu lassen. Rihm, das Ensemble und die diskrete, eindringliche Personenregie von Pierre Audi sind eigenständige Teile dieses Gesamtkunstwerks; Meeses raffiniert konstruierte Bilder und Szenen ein anderer. Beide zusammen ergeben mehr als die Summe ihrer Teile.
Der Spannungsbogen, den Meese aufbaut, beginnt mit dem schwarz-weiß gepinselten Prospekt, auf dem ein Comic-Nietzsche - finstere Augenschlitze, ein monströser Bart - das Publikum anstarrt. In der ersten Szene wird der stumme "N" mit stratosphärischen Damengesängen besungen und von Ariadne (großartig bis in höchste Höhen: die Hamburger Sopranistin Mojca Erdmann) und ihrem roten Handlungsfaden um den sprichwörtlichen Finger gewickelt. Seine ersten, gestammelten Worte vor einem dunklen Riesenschnäuzer: "Ich bin dein Labyrinth." Meese und Rihm schicken ihr Gegensatzpaar "N" und seine heller gekleidete Hälfte namens "Ein Gast" auf eine Pilgerreise zu den Gipfeln und in Abgründe menschlicher Erkenntnis. Man staunt Bauklötze über die Bauklötze, die Meese im Haus für Mozart auf die Bühne geschüttet hat, wie ein Spielkind, das sich vom Fall der Requisiten überraschen lassen will. Einige Dreiecke als Bilderbuchgebirge, riesige Unterbewusstseinsblasen für eine dämmrig-bittere Bordellszene, in der langbeinige Grazien, die alle Esmeralda heißen, davon gurren, dass nur die Leidenden geliebt werden. Nachdem Rihm bis hierhin zunächst auf gewohnt hohem Niveau neu tönt, beginnt hier das clevere Spiel mit dem Material Tradition.
Er wartet mit einem morbiden Walzer auf, mit einem stellenweise bluesig verfärbten Wandererlied und sogar mit einem Choral, der sich demütig vor dem Idol Bach verbeugt. All das ist großes, bewegendes, hochromantisches und tragisches Musiktheater jenseits der Konventionen. Nach der grandiosen Premiere von Nonos Oper "Al gran sole" im letzten Sommer ist Metzmacher mit dieser Leistung für Salzburg mehr und mehr das, was der frühere Buhmann Boulez einst für Bayreuth war: der unbequeme, aber unaufhaltsame Frischwindbringer. Für Nono hatte er sogar die Wiener Philharmoniker auf seine Seite gebracht, jetzt war es sein eigenes Berliner DSO, dessen Musiker seine Avantgarde-Begeisterung hörbar teilten. Das Ensemble, allen voran die Sänger Johannes Martin Kränzle und Matthias Kling, war handverlesen und großartig. Beim Finale kommt die Musik zum Stillstand. Wer bis zu diesem Moment noch singen sollte, verstummt und verbeugt sich, langsam und demütig. "N" ist gehäutet, nackt, totgeweiht und neugeboren. Gestrandet, gescheitert auf hohem Niveau. Die Friedrich-Passion kommt zu ihrem Ende. "Selbstverständlich kann man Nietzsche nicht vertonen", hatte sich Rihm 1986 ins Gewissen notiert. Mit diesem Geniestreich hat Rihm, Nietzsche sei Dank, sich selbst aufs Schönste widerlegt.