In dem Projekt verhandelt Schorsch Kamerun im Thalia Gaußstraße, was dem Leben in aufpolierten Stadtteilen fehlt - vor allem Überraschung.
Hamburg. Ein Theaterabend, der "Die Verschwundenen von Altona" heißt, könnte von Menschen handeln, die im Krieg verloren gingen. Oder die Opfer mysteriöser Verbrechen wurden. Doch Regisseur Schorsch Kamerun blickt im Thalia in der Gaußstraße nicht auf das spektakuläre Verschwinden. Er richtet seinen Blick auf den schleichenden, aber doch offensichtlichen Wandel. Wie alternative Lebensentwürfe abhanden kommen. Warum die Menschen ärmer an Utopien sind und die Städte weniger aufregend. Altona wird in der Inszenierung zur Metapher für das, was in unserem übervollen Leben dennoch fehlt.
"Mich interessiert, wie die Welt mittlerweile ausgeleuchtet, abgebildet und verpackt ist. Das Fremde und das Entdecken verschwinden. Wenn man zum Beispiel eine Reise macht, begeht man die vorab zunächst im Internet und schaut auf Google-Earth: Wo komme ich denn da hin?", erklärt Kamerun, nachdem er auf der Probebühne in Ottensen noch schnell einen Tee gekocht hat und zwei Stühle neben dem Klavier zurechtrückt. Kamerun ist einer, der sich schnell in Provisorien einrichtet, der jene Situationen mag, die nicht durch- und überdefiniert sind. "Wir schaffen Überraschungen extrem ab", sagt er dann. Das gelte auch für unsere Städte. Wenn sich Lücken aller Art schließen und alles bequem erforschbar ist, hinterlässt das, so paradox es klingen mag, ein Gefühl von Leere. Vermisst wird der Spielraum. Es ist eine Art urbaner Phantomschmerz, der juckt.
"Woran leidet man, wenn einem alles präsentiert wird? Ich glaube, wir geraten in eine Art Lähmungszustand, wenn sich nichts mehr entdecken lässt", sagt Kamerun. Er ist kein übereifriger, aber ein dringlicher Redner. Seine Stimme hallt durch die hohe Halle. In seinem Rücken ruht die Kulisse. Eine Art Bungalow mit moderner Glasfassade, hinter der sich Spuren familiären Lebens abzeichnen. Ein umgekippter Stuhl. Ein Bildschirm.
Das Ambiente wirkt kalt, kaputt. In dieser Atmosphäre richtet Kamerun den Abend als Konzert ein - in Personalunion als Regisseur und Sänger. Und gemeinsam mit den Schauspielern Sandra Flubacher, Franziska Hartmann, Axel Olsson und Josef Ostendorf. Seine Protagonisten sind längst in dieses Neubaugebiet umgesiedelt, weil sie sich den sanierten Altbau im In-Viertel nicht mehr leisten können.
Eine Entwicklung, die sich Kamerun während seiner Recherchen in Altona vermittelte, zum Beispiel in Gesprächen mit Fabrik-Gründer Horst Dietrich oder mit Menschen auf der Straße. Andererseits hörte er auch Stimmen, etwa von Neu-Ottensern, die das Quartier nach wie vor als subkulturell wahrnehmen. Perspektiven, die Kamerun in Songs in Collagetechnik in- und gegeneinander schneidet. In "Die Verschwundenen von Altona" möchte er "Zustände abbilden", kein psychologisch angelegtes Stück erzählen. Ihm geht es nicht um Pop und Ironisierung, sondern um Sprache und Haltung.
In den Liedtexten, die kollektiv während des Probenprozesses entstanden, spielt auch die historische Dimension eine Rolle. Das "Dorf Altona" sieht Kamerun geschichtlich betrachtet als Opposition zum pfeffersäckischen Hamburg. "Altona hatte einen freibeuterischen Status. Was in Hamburg verboten war, wurde außerhalb der Stadttore praktiziert", sagt er. Das symbolisiere heute noch das Wappen des Bezirks, das im Gegensatz zu Hamburg ein geöffnetes Tor zeigt.
Altona als Folie für seine Inszenierung zu wählen, von der einst dänischen Enklave bis zum bald schwedischen Standort (Ikea), hängt eng mit der Vita Kameruns zusammen. "Ich komme aus dem schicken Timmendorfer Strand an der Ostsee. Als ich 1981 nach Altona zog, war das Viertel noch unheimlich rau. Da fingen wir ja schon an selbst zu gentrifizieren, weil wir als beginnende Kreativklasse da hingegangen sind. Aber wir haben das halt gemacht, weil es billig war. Und weil der Bürger da damals auch nicht hinwollte", erzählt Kamerun, der bei der Hamburger Agitprop-Band Die Goldenen Zitronen spielt und singt, den Golden Pudel Klub am Hafen mitbegründete und seit Jahren als Theaterregisseur und Autor tätig ist.
"Die meisten, die ich kenne, sind in eine Urbanität gezogen, weil es dort Freiräume gab, die sie sonst nicht fanden. Mittlerweile hat der Markt ja längst kapiert, dass das Alternative, Besondere, Gegenkulturelle ein willkommenes Verkaufsargument ist", sagt Kamerun. Er trägt einen sehr bunten, sehr gemusterten Pulli, als wollte bereits die Kleidung sagen: Alles hängt mit allem zusammen. Nichts ist einfach. Nichts schwarz-weiß.
Kamerun ist kein Kulturpessimist. Die Idee vom widersprüchlichen Lebensraum Stadt hat er nicht aufgegeben. Vielmehr erkennt er in neueren Bewegungen vom Wutbürger bis zu Occupy das Bedürfnis, mitbestimmen zu wollen. Zudem sieht er den wachsenden Wunsch, sich in einer Gruppe zu treffen und mitzuteilen - sei es beim spontanen Flashmob oder im revolutionären Ausmaß wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo. "Nach Befindlichkeit und Individualisierung, die wir hinter uns haben, geht es jetzt wieder mehr um ein physisches Zusammenfinden", sagt Kamerun. Gemeinsam sichtbar werden - eine Maßnahme gegen das Verschwinden.
"Die Verschwundenen von Altona" Fr 2.3., 20.00 (Premiere), weitere Vorst.: 3., 17., 22., 23.3., Thalia Gaußstraße (Bus 2), Gaußstr. 190; Hier finden Sie den Blog zum Projekt