Großes Werk, tolle Sänger, starke Regie: Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung lohnt jeden Weg in die Staatsoper
Hamburg. Was für eine unheimliche Musik: Glissandierende Weltuntergangsposaunen, Kontrabässe, die brüllen wie die geschundene Kreatur, ein Schlagzeuggeflirr, das nicht nur aus dem Orchestergraben aufsteigt, sondern bisweilen auch aus Lautsprechern über der Bühne dringt. Melodien, die man auf dem Nachhauseweg pfeifen könnte, sind bei Aribert Reimanns "Lear" nicht dabei. Das ist ja bitterernst, was da verhandelt wird, und furchtbar anstrengend zu hören. Komm, Schatz, wir gehen.
Ja, der "Lear" ist kein Spaß, schon bei Shakespeare nicht, und die Regisseurin Karoline Gruber, die ihn jetzt für die Hamburgische Staatsoper eingerichtet hat, tut einen Teufel, das düstere, großartig tragische Werk irgendwie aufzuhübschen. Denn was für eine unheimlich schöne Musik manchmal auch: Dem umherirrenden Lear, der aus freien Stücken zum König Ohneland wird, weil er sein Reich unter den schaurigen Töchtern Goneril und Regan aufgeteilt und die ihm zugewandte dritte Tochter Cordelia verstoßen hat, bietet in seiner Weltverlassenheit ein Bassflöten-Solo voller Zartheit und Tiefe des Ausdrucks so etwas wie Trost.
Wenn der kluge, stets der höheren Wahrheit verpflichtete Narr (Erwin Leder) spricht, umspielen Streichquartettklänge seine Worte. Und ungeachtet der oft kruden Intervallsprünge, die die Sänger bewältigen müssen, bezeugen die Gesangsstimmen Note für Note, wie tief vertraut Aribert Reimann, der lange im Brotberuf Klavierbegleiter großer Liedsänger war, mit den Möglichkeiten der menschlichen Stimme ist.
Wer sich nicht feige in der Pause zum "Tatort"-Gucken nach Hause verdrückte, wird am Ende verstanden haben, weshalb der "Lear" seit der Uraufführung 1978 weltweit als Meisterwerk gehandelt und behandelt wird, als eines der Signaturstücke des 20. Jahrhunderts. Wir dürfen froh sein, dass es endlich seinen Weg hierher gefunden hat.
Karoline Grubers Regie vertraut man sich schon deshalb an, weil sie ganz aus der Musik herausgearbeitet ist. Timing und Auftritte, Blickachsen, dynamisches Gewebe der Figuren untereinander - all das hat sie im Griff, mit der Partitur im Sinn. Mithilfe ihres Bühnenbildners Roy Spahn überhöht sie den geschliffenen Text des Librettisten Claus H. Henneberg nach Shakespeare mit einer Schicht aus projizierten Schrift-Zeichen. Durch Wegfall oder Umstellung weniger Buchstaben soll sinnfällig werden, welche Verbindung, Verwandtschaft und Verstrickung zwischen Schlüsselbegriffen des Stücks besteht - Reich, Ich, Macht, Nichts, König. Man mag dieses Subtext-Wörtertheater störend finden, vielleicht auch didaktisch. Doch der Verlust von Verstand und Identität geht immer einher mit Umwertung und Verlust von Sprache, und Spahn gewinnt mit seiner Lichtspur aus Worten für die Bühne auch eine eigene ästhetische Signatur.
Bo Skovhus besitzt alle stimmliche und darstellerische Präsenz, um die Titelfigur jenseits aller Historizität als Bruder Lear kenntlich zu machen. Sein Leiden ist unser Leiden, sein Irren unseres. Katja Pieweck (Goneril), sonst auf Wagner-Heroinen abonniert, thront, bisweilen herrlich kostümiert (Mechthild Seipel), massig und mit scharfem Gesangsstrahl als Muse des Bösen über dem Geschehen. Hellen Kwon (Regan) steht ihr stimmlich nicht nach, und Ha Young Lee ist als Cordelia fast eine Offenbarung. Die Töchtergatten Albany (Moritz Gogg) und Cornwall (Peter Galliard), Statisten, die sie sind, rückt Karoline Gruber konsequent in den Hintergrund. Andrew Watts brilliert in der zwischen Tenor und Counter changierenden Partie des Edgar/Tom.
Und so tiefenscharf hat man die Philharmoniker unter ihrer zuletzt so ungeliebten Chefin Simone Young lange nicht gehört. Jubel für sie, Ovationen für Reimann, nur ein wiederholter Buhruf für Gruber. Alle anderen Miesepeter saßen wohl schon im Fernsehsessel.