An diesem Sonntag hat Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung “Lear“ ihre Premiere an der Staatsoper
Staatsoper. Wenn schon Handwerker nicht immer so ganz pünktlich mit der Produktion von Auftragsarbeiten sind, warum sollte es Komponisten beim Verfassen neuer Stücke besser gehen? Einen Rekord in dieser Disziplin dürfte allerdings Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung "Lear" aufstellen, die 34 Jahre später als ursprünglich geplant auf jener Opernbühne zu erleben ist, für die sie einst bestellt worden war.
Reimanns Kunde war der damalige Hamburger Staatsopern-Chef August Everding, es sollte etwas Extrafeines zum 300. Geburtstag des Hauses sein. Doch als ihn die Bayerische Staatsoper an die Isar holte, nahm Everding seine gute Idee einfach mit. Opernhäuser in Berlin und Wien, ebenfalls sehr an dem Stück interessiert, hatten das Nachsehen. Und so geschah es, dass der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, dem Reimann für seine dritte Oper die Titel-Partie gewidmet hatte, im Juli 1978 in München und nicht an der Elbe für seine Leistung gefeiert wurde.
Wie bei anderen Shakespeare-Dramen gab es auch beim "Lear", der tragischen Geschichte eines am Wahnsinn der Welt verrückt werdenden Königs, einen prominenten Vorgänger, der sich vor Reimann an diesem Stoff versucht hatte. Giuseppe Verdi hätte ihn gern in den Griff bekommen, sah aber nach etlichen Anläufen ein: Es sollte einfach nicht sein.
Kein Grund für Reimann, sein Glück nicht zu versuchen; für ihn war der "Lear" schließlich "schon immer das einzige Shakespeare-Stück gewesen, das Ansätze fürs Musiktheater bot". Er versprach Musik "voll Schärfe und Härte" und einen "riesigen Raumklang". "Dagegen war die ,Melusine'" - Reimanns zweite Oper - nur "ein Kinderspiel", meinte er, "als ich mich dazu entschloss, dieses Stück zu schreiben, merkte ich, dass kein anderer Stoff mir so viele Antworten auf die Fragen gibt, die ich an die heutige Zeit habe."
Musikalischer Höhepunkt, in dem sich die ganze Raffinesse von Reimanns Können spiegelt, ist die Heideszene, in der er aus 48 einzelnen Streicherstimmen einen Vierteltoncluster aufbaut, der, so Reimann, "von unten heraus langsam zu vibrieren beginnt wie ein Erdbeben".
Interessant und vielsagend ist, dass Reimann den Regenten im Titel entthronte und verbürgerlichte, indem er die Königswürde aus dem Namen seiner Oper strich. Lear, so die Bedeutung dieser Idee, kann jeder von uns sein. Ein Jedermann, dem das Schicksal die Beine weghaut. Niemand soll sich sicher fühlen, selbst wenn er keine drei Töchter mit eher schwierigen Charakteren und Intriganten in seiner näheren Umgebung hat.
Die Münchner Premieren-Inszenierung stammte von Jean-Pierre Ponnelle, es dirigierte - eine kleine Ironie der Musikgeschichte - der spätere Hamburger Generalmusikdirektor Gerd Albrecht. Doch auch das Stück selbst erwies sich als so gelungen und gehaltvoll, das es zum festen Bestandteil des zeitgenössischen Repertoires wurde und nicht in der prall gefüllten Versenkung des Gutgemeinten verschwand.
In ihrer Premierenkritik schrieb die "Süddeutsche Zeitung" damals, man könne sich die Partie des Lear nur schwer getrennt von ihrem ersten Interpreten vorstellen. Mit dieser Hypothek belastet ist in Hamburg der dänische Bariton Bo Skovhus. Ein guter Bekannter und gern gehörter Gast an der Dammtorstraße, den die Hausherrin Simone Young als Wunschkandidaten für die Rolle bezeichnet hatte; er glänzte hier in Peter Konwitschnys bitterbösem "Wozzeck" ebenso wie als Don Giovanni. Young hat den "Lear" zur Chefinnensache gemacht und dirigiert selbst. Die Inszenierung stammt von Karoline Gruber, die an der Dammtorstraße Monteverdis "Poppea", Verdis "Nabucco" und Händels "Giulio Cesare" erarbeitet hat. Und auch bei der drastisch verspäteten Hamburger Erstaufführung gibt es mit der 333. Spielzeit einen passenden Jubiläumstermin.
Reimanns Regent ohne Rettung ist nun endlich wieder dort, wo er von Haus aus hingehört.
"Lear" Premiere So 15.1., 18.00, weitere Vorstellungen 18., 21., 24., 27. u. 30.1., 3.2., jew. 19.30, Staatsoper (U Gänsemarkt), Dammtorstr., Karten zu 6,- bis 158,- (Premiere) unter T. 35 68 68;
Internet: www.hamburgische-staatsoper.de