Vor 100 Jahren starb der Schriftsteller Mark Twain. Gerade ist ein Frühwerk von ihm erstmals auf Deutsch herausgekommen: “Post aus Hawaii“.

Hamburg. Als die "Ajax" im März 1866 den Hafen von San Francisco in Richtung Hawaii verließ, waren die Passagiere, unter ihnen der junge Zeitungskorrespondent Samuel Langhorne Clemens, der sich Mark Twain nannte, erfüllt. Von Abschiedsschmerz, von Vorfreude, einige schlicht vom Whiskey. "Alle außer Brown. Brown hatte ein paar Erdnüsse zu Mittag gegessen, weswegen man ihm schwer nachsagen kann, er sei lediglich von Whiskey erfüllt gewesen, ohne die Grenzen des Wahrheitsgemäßen schändlich zu überschreiten."

Die Grenzen des Wahrheitsgemäßen überschritt Mark Twain regelmäßig, schon in diesen ersten Sätzen seiner "Post aus Hawaii", für die er nicht nur Brown, seinen raubeinigen, seekranken und poesiefernen Reisegefährten, schlicht erfand. Mark Twain, dessen Todestag sich am Mittwoch zum 100. Mal jährt, nahm die Unterscheidung zwischen Journalismus und Literatur nicht so genau. "Er war, lange vor Tom Kummer, der erste Borderline-Journalist", schrieb der "Spiegel" erst kürzlich in einer hinreißenden Spurensuche - zu viel der Ehre womöglich für Kummer und seine ausgedachten Promi-Interviews.

Aber auch Mark Twain, der sich als Reporter nach Hawaii aufmachte und als weltreisender Vortragskünstler (der heutzutage wohl seine Powerpoint-Präsentation im Gepäck hätte) und großer Schriftsteller zurückkehrte, verstand die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit als fließend. "Recherchiere erst einmal die Fakten", erklärte er pragmatisch, "dann kannst du sie verdrehen." Twain ergänzte die Wahrheit und schmückte sie aus, um sie dadurch nur noch mehr zu verdichten. Wirtschaftliche und politische Realitäten sind bei ihm zu Weltliteratur geworden, nicht nur in den berühmten Abenteuern des Huckleberry Finn.

Der Hamburger Mare-Buchverlag zum Beispiel hat anlässlich des Todestages Twains nahezu vergessene "Post aus Hawaii", Reisebriefe an die kalifornische Tageszeitung "Daily Union", zum ersten Mal auf Deutsch herausgebracht. Wer sie am Strand von Waikiki liest, über den viele Hawaii-Touristen von heute nicht hinauskommen, dem eröffnen sie die Ebenen hinter dem Sonnenschein-Surf-Obama-Hulakitsch-Staat, und der bekommt zugleich einen guten Eindruck jenes Mannes, der auf alten Fotos immer ein bisschen wie ein schlecht gelaunter Albert Einstein wirkt. Was daran liegen könnte, dass Twain kein Freund des damals neumodischen Fotografierens gewesen ist, wie er in "Post aus Hawaii" unmissverständlich murrt: "Mögen Hunger, Durst und Elend den Schurken strafen, der diesen Unfug erfunden hat!" Er sei in dieser Angelegenheit "etwas empfindlich, weil mich der Apparat hintereinander als Wahnsinnigen, Salomon, Missionar, Einbrecher und elenden Trottel abgebildet hat, und ich bin keiner von diesen". Seine spätere Frau Olivia, die er heiratete, nachdem er sich in ihr Bild auf einer Elfenbeinminiatur verliebte, die ihr Bruder Charles Langdon mit sich trug, mag dies mitunter anders empfunden haben. Sie hat später seine bekannteren Texte Korrektur gelesen, geglättet wohl auch. Umso mehr erfreut das Anarchische, das Lakonische und Schelmische, das - typisch Twain - spöttisch Entlarvende und dabei nicht Gehässige in dieser frühen "Post aus Hawaii", die der Übersetzer Alexander Pechmann nicht nur um einen Brief und eine Tagebuchnotiz ergänzt, sondern auch um eine Bemerkung von Ernest Hemingway: "Die gesamte amerikanische Literatur gründet auf Mark Twain. Davor gab es nichts. Danach ist nie wieder etwas so gut gewesen."

Ganz sicher markieren Twains unterhaltsame Briefe aus Hawaii einen Wendepunkt in seinem Leben. Die Episoden über König Kamehameha, die "höllisch nach ihrem teuflischen Kokosöl" duftenden Mädchen, den enttäuschenden Anblick der Vulkanlava, das (bisweilen arg ausführlich geratene) Zuckergeschäft machten ihn zu jenem Literaten, der Vorbild war für viele, die folgten.

Mark Twain, bei dessen Geburt in Missouri 1835 der Halleysche Komet am Himmel zu sehen war, verließ die Schule mit zwölf Jahren und arbeitete - bevor er pointierter Chronist und mit Werken wie "Die Arglosen im Ausland" auflagenstärkster Autor seiner Zeit wurde - auch als Mississippi-Schiffer, Silbersucher und Schriftsetzer.

Seinen Künstlernamen borgte er sich aus der Lotsensprache: "Mark Twain" bedeutet "Zwei Faden Wassertiefe markieren". Bis aus dem Südstaatenjungen der, in seinen eigenen unbescheidenen Worten, "gefeiertste Schriftsteller, den Amerika je hervorgebracht hat", wurde, ging er mit seinen Geschichten über "unsere Mitwilden von den Sandwich-Inseln" auf Vortragsreise. Eine lukrative und, denkt man an die Mehrzweckhallenauftritte der lange nicht so spitzfedrigen Humoristen von heute, durchaus moderne Idee.

Während Mark Twains Tod zuvor schon einmal irrtümlich vermeldet wurde ("Der Bericht über meinen Tod war eine Übertreibung"), starb Samuel Langhorne Clemens kurz nach der Wiederkunft des Halleyschen Kometen am 21. April 1910. Auch 100 Jahre später muss man zugeben: Dieser Mann hatte ein Gespür für passende Schlusspointen.

Mark Twain: Post aus Hawaii. Mare, 368 Seiten, 24 Euro