Peking. Als die „Teeblütenfrau“, wie die „Kameliendame“ auf Chinesisch genannt wird, am Ende tot auf der Bühne zusammenbricht, ist das Pekinger Publikum ebenso beeindruckt wie bedrückt. Es dauert etwas, bis sich die Begeisterung eine Bahn brechen kann. Doch dann schwillt der Beifall langsam an, werden die „Bravo“-Rufe immer lauter.
Als schließlich noch John Neumeier zwischen seine Tänzer auf die Bühne tritt und sich für den Zuspruch bedankt, ist der Jubel für den dienstältesten amtierenden Ballettdirektor der Welt groß. Elf Jahre nach ihrem ersten Gastspiel in China gab das Hamburg Ballett am Mittwoch in Peking das China-Debüt der „Kameliendame“, das seit 1978 zu seinen herausragenden Werken gehört.
Das Literaturballett nach Alexandre Dumas sei ideal für die drei Auftritte in China, sagte Neumeier. Es sei ein „moderner Klassiker“. Die Geschichte um die tragische Liebe zwischen der todkranken Titelheldin Marguerite Gautier und ihrem Geliebten Armand Duval berühre tief und könnte auch in der heutigen Zeit spielen. Das Schicksal sei für jeden nachvollziehbar – unabhängig von Kultur und Zeit, findet Neumeier.
„Das Ballett benutzt die klassische Technik auf eine sehr moderne und expressive Weise.“ Das vielschichtige Drama knüpfe in der Romantik an. „Die Kostüme lassen uns von einer Zeit träumen, als die Menschen sich auf wunderbare Weise kleideten.“
Doch auch wenn der Zuschauer ins 19. Jahrhundert zurückversetzt wird, wären die Bewegungen damals nicht möglich gewesen. In den drei Besetzungen der Hauptrollen, in denen die „Kameliendame“ in Peking gezeigt wird, interpretierten die Tänzer außerdem den selben Tanztext unterschiedlich und „geben ihm ihre eigene Individualität“. „Sie sehen den selben Schritt, aber sie sehen, sie sind unterschiedlich“, schilderte der gefeierte Choreograph aus Milwaukee (Wisconsin). „Tanz ist immer lebende Kunst.“
Mehr als 130 Choregraphien hat Neumeier schon geschaffen, dabei klassische Balletttradition mit visionärem Tanz verbunden. „Die Zukunft des Balletts liegt nur in der Kreation“, sagte der 67-Jährige mit ernster Stimme. „Nur wenn etwas geschaffen wird, wird sich die Kunst fortsetzen.“
Chinesische Zeitungen erinnerten amüsiert an den ersten Auftritt des Hamburg Balletts 1999 mit dem „Mitsommernachtstraum“. Das chinesische Publikum – das auch während der Peking-Oper am liebsten nebenher isst oder trinkt – sei so laut und störend gewesen, dass Neumeier die Vorstellung am liebsten abgebrochen hätte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Chinas Ballettfreunde putzen sich zwar nicht mit dem Sonntagsstaat heraus, aber wissen längst, wie viel Ruhe ein Ballett braucht, um genossen werden zu können.
Auch das erst vor zwei Jahren eröffnete und liebevoll „Ei“ oder „Ufo“ genannte futuristische National Center of Performing Arts (NCPA) ist technisch mit großen Weltbühnen vergleichbar. Unter der ovalen silbernen Schale in einem künstlichen See neben der Großen Halle des Volkes gibt es nicht nur das Opernhaus, wo die Hamburger auftraten, sondern auch ein Theater und eine Konzerthalle. „Es ist so groß, dass wir manchmal verloren gehen“, staunte Betriebsdirektorin Ulrike Schmidt, die mit der 97 Mitglieder starken Truppe angereist ist. „Wir hoffen jedes Mal, dass wir am Ende auch die Bühne finden.“
Trotz der schwierigen Erfahrungen von 1999 ist Neumeier gerne nach China zurückgekehrt. „Überall, wo ich in der Welt war, stellte ich fest, dass jeder dieses Jahr nach China geht“, berichtete Neumeier. „China bewegt sich in einer Welle, die ansteigt, und wir alle gehen mit der Welle hoch.“