Die Erste Solistin wird im Dezember 36. Das Ende ihrer Tanzkarriere ist in Sicht. Den Lebensabend möchte sie mit ihrem Mann in der Toskana verbringen.
Hamburg. Wie schafft es ein so zarter, mädchenhafter Körper, Gelächter von derartiger Phonstärke zu erzeugen? Ein herrlich lautes, spontanes Lachen, das aus der zierlichen Silvia Azzoni herausbricht. Während des Gesprächs mit der Ersten Solistin des Hamburg Balletts stellt sich immer wieder die Frage, woher diese Kraft kommt, denn Silvia Azzoni lacht viel. Vermutlich aus dem Resonanzraum eines erfüllten Lebens, das sie frei macht und ihren Beruf genießen lässt, selbst wenn, wie augenblicklich, eine Rolle sie bis zur Erschöpfung treibt. Sie tanzt das junge Mädchen in der Rekonstruktion von Vaslav Nijinskys Choreografie "Le Sacre du Printemps" auf die rhythmisch vertrackte Musik von Igor Strawinsky. Millicent Hodson und Kenneth Archer haben dieses einst skandalträchtigste Werk der Ballettgeschichte wieder zum Leben erweckt. Am Sonntag wird es zur Eröffnung der 35. Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper anlässlich der "Hommage aux Ballets Russes" zu sehen sein.
Silvia Azzoni? Das ist doch die kleine Meerjungfrau, wissen selbst Zuschauer, die nur gelegentlich ein Werk von John Neumeier sehen. Jene kleine Meerjungfrau, die ihre Identität opfert für ein enttäuschendes Menschenleben, weil sich ihre Liebe nicht erfüllt. "Vom ersten Tag an habe ich gedacht, ich bin dieses Wesen, so vertraut war es mir", sagt die Italienerin. "Ich musste sie mir nicht mental erarbeiten, um besser von der Rolle Besitz zu ergreifen. Alles passierte natürlich, sie war schon in mir drin."
Ein Glücksfall für eine Tänzerin, ein Geschenk von John Neumeier, das die Azzoni, wann immer sie diese Rolle tanzt, als etwas ganz Besonderes empfinden und genießen lässt, obwohl sie technisch höllisch schwer ist. Ganz abgesehen von den überlangen, federleichten Flatterhosen als Flossen, die schon mal zwischen ihren Beinen oder denen der Partner hängen bleiben. "Okay", sagt sich Silvia Azzoni dann, "ich warte eine Sekunde, dann kann ich weitermachen."
Diese Kaltblütigkeit hatte sie nicht immer. Diese Souveränität, ja innere Gelassenheit, Dinge nicht mit Gewalt und verbiestertem Ehrgeiz stemmen zu wollen. "Ich habe mich früher oft wahnsinnig über mich selbst geärgert, wenn etwas nicht so klappte, wie ich es wollte." Heute, sagt sie, wisse sie, dass das zu viel war: "Wir sind keine Computer. Ich will zwar immer noch perfekt sein, aber ich versuche ruhig zu bleiben und mich zu trösten, dass die nächste Vorstellung besser wird." Zumal ihr Mann, der Erste Solist Alexandre Riabko, sie grundsätzlich von der Seitenbühne mit liebenden Augen sieht, wenn sie tanzt, und notfalls tröstet. Umgekehrt ist es genauso. "Wir sind füreinander da", sagt Silvia Azzoni mit einer Schlichtheit, die tiefe Liebe verrät.
Mit ihrem Mann stellt sie sich einen Ruhestand unter toskanischer Sonne vor. "Ich brauche die Wärme - und Sascha auch", fügt sie so bestimmt hinzu, dass der gebürtige Ukrainer kaum eine Chance hätte, wollte er seine letzten Jahre auf Grönland verbringen. Womit sich auch klärt, wer von beiden die Hosen anhat. Selbst, wenn Silvia Azzoni lachend behauptet, das wechsele, hat sie wohl nicht nur in diesem Fall das Sagen ...
Auf Vermittlung ihrer Ballettlehrerin in Turin war die hochbegabte 17-Jährige 1991 in das Ballettinternat von John Neumeier nach Hamburg gekommen. Dass ihre Ausbildung in Turin keineswegs dem hohen Niveau entsprach, das manche Mitschülerinnen im Ballettzentrum hatten, schockte sie zwar, aber sie schwor sich: "Das schaff ich."
Zwei Jahre später wurde sie in die Hamburger Compagnie aufgenommen, seit 1996 ist sie Solistin und seit 2001 eine mit vielen Preisen ausgezeichnete Erste Solistin. Für die Titelrolle der "Kleinen Meerjungfrau" wurde sie sogar mit dem Benois de la Danse geehrt, dem Oscar für Tänzer. Ob die Kameliendame, Sylvia oder Cinderella, ob Dornröschen oder Marie - Silvia Azzoni sucht immer das Maximum, selbst wenn eine Rolle einen enormen Einsatz verlangt wie die des jungen Mädchens im "Sacre". Sie ist schon deshalb eine Herausforderung, weil die Choreografie einwärts gedrehte Füße verlangt, was der antrainierten klassischen Auswärtshaltung entgegensteht. Diese Rolle ist keine Lebensrolle wie die Meerjungfrau, aber eine, die Silvia Azzonis technisches und darstellerisches Vermögen fordert: "Ich brauche schnelle und eruptive Kraft besonders in dem Solo. Doch die Gefühle geben hier nicht die Schritte vor wie in anderen Balletten, weshalb ich glaube, dass es eine Weile dauert, bis ich die Bewegungen ganz verinnerlicht habe."
Im Dezember wird Silvia Azzoni 36 Jahre alt. Sie sieht zwar viel jünger aus, ist auch fit bis auf jene Schmerzen, die jeden Tänzer quälen, aber sie macht sich Gedanken über ihre Zukunft. Sie weiß, dass sie nach ihrem Karriereende in ein Loch fällt und wohl die schwerste Phase im Leben eines Tänzers durchmachen wird. "Wir müssen uns bis zum 40. Lebensjahr vollkommen auf unseren Beruf konzentrieren, haben keine Zeit für anderes, und plötzlich ist da eine Leere, bevor wir unser Leben neu ordnen. Wir haben für den Applaus getanzt. Das wird dann nicht mehr sein, und ich versuche, mich darauf vorzubereiten."
Ja, sagt sie, es könne auch ihr passieren, dass sie wie die Star-Ballerina Heather Jurgensen als Verkäuferin ihr Geld verdienen müsse. Der Gedanke macht sie schon ängstlich, nicht zu wissen, was kommt. "Ich bin positiv, ich werde etwas finden", beruhigt sie sich selbst. Vielleicht wird sie als Ballettmeisterin arbeiten, vielleicht als Tourneemanagerin für eine Ballett-Compagnie. "Ich kann organisieren, ich liebe es zu reisen, ich bin gern in anderen Ländern." Sie denkt in die Ferne. Bis dahin wird sie tanzen, tanzen, tanzen.