Auch wenn er die letzte Tür zu seinem Innenleben verschlossen hielt: Curtis Stigers gab ein denkwürdiges Konzert in der Fabrik.
Hamburg. Hobby-Evolutionsbiologen können endlos darüber debattieren, was zuerst da war - die Henne oder das Ei. Jazzfans führen solche Prioritätsdiskussionen vorzugsweise über die Frage, was wichtiger sei: Das Lied oder der Interpret. "It's the singer, not the song!", rufen die einen. "Bullshit!", geben die anderen zurück. "Erst der Song adelt den Interpreten!"
Das Konzert des Sängers Curtis Stigers am Montag in der Fabrik gab diesem leidenschaftlich geführten und dabei herrlich unwichtigen Streit jede Menge neue Nahrung. Denn Stigers ist jemand, der das Singen mindestens genauso ernst nimmt wie seine Songauswahl. Er sucht sich neben allerlei Jazz-Standards gerne Stücke raus, die bislang noch niemanden um eine Jazz-Version angebettelt haben - etwa John Lennons "Jealous Guy", Tom Waits' "San Diego Serenade" oder "Cold" von Annie Lennox.
Besäße Stigers das sängerische Format, dass man diese Songs künftig zuerst in seiner Deutung im Gedächtnis behielte: Dann wären die im Recht, die den Sänger wichtiger nehmen als den Song. Und hört man den dünnen, picobello angezogenen Mann mit dem perfekt geschnittenen kurzen Grauschwarzschopf den Elvis-Titel "That's All Right" singen, dann wünscht man, in Graceland wäre das Licht nie ausgegangen.
Es dauerte eine gute Stunde, bis Curtis Stigers sich seinen Weg nicht nur ins Gehör, sondern auch ins Herz des Rezensenten gebahnt hatte. Keine Einwände gegen seine intonationssichere Stimme, keine Einwände auch gegen sein Tenorsaxofonspiel, das in seiner intellektuell gebändigten, bluesigen Intensität an die texanische Horn-Schule zwischen Stanley Turrentine und Bennie Wallace erinnerte. Aber was Stigers auch sang - nackig machte er seine Seele lange nicht. Das wäre ja auch die Quadratur des Kreises: dass der Mann cool sein darf und verletzlich, ein Ritter Weichei. Aber wenn einer schon den herzzerreißenden Blues "You Don't Know What Love Is" auf die Setlist setzt, muss er sich dem Herzschmerz mehr ergeben können als allem anderen, wenigstens für die Dauer des Songs. Dann will man hören, was er wirklich weiß vom Blues, was er gelebt und wie er gelitten hat. Selbstvergessenheit und Offenbarungen aber sind Stigers' Sache nicht. Er kontrolliert die Emotion lieber, statt ihrer Kraft zu trauen und ihrer vergänglichen Natur. Die letzte Tür zu seinem Inneren hielt er verschlossen.
Die (selbst-)ironischen Moderationen des Sängers hätten mit ihren routinierten, wohl gesetzten Pointen gut in einen Nachtklub mit Tischbedienung gepasst. Sehr hübsch war auch ein längeres vokales Schlagzeugsolo, das Stigers mit angedeuteten Armbewegungen über imaginäre Trommeln und Becken ausführte. Hier wurde das außergewöhnliche Timing des Sängers - die rhythmische Flexibilität und Sicherheit gegenüber dem Beat - besonders deutlich.
Und wo Stigers sich verborgen hielt, schlug das Herz seiner Band umso lebendiger. Er gehe ungern ohne Matthew Fries (Klavier), Cliff Schmitt (Bass) und Keith Hall (Schlagzeug) auf die Bühne, erzählte Stigers. Kein Wunder: Dieses Trio spielt einen begeisternd-variablen Jazz. In manchen Stücken schien jeder seine eigene Idee von der rhythmischen Gestalt des Songs zu verfolgen. Das Ergebnis von so viel Freiheit war nicht etwa Chaos, sondern ein ungemein leichter, tänzerischer Beat. Eine derart unprätentiös und anregend improvisierende Band gab es hier lange nicht zu hören. Matthew Fries fand in dem gospelgetränkten Blues "Dirty Water" zu einer an McCoy Tyner erinnernden Klangwucht, Hall swingte mächtig, ohne seinem Instrument Gewalt anzutun, und Schmitt zupfte auf seinem Bass nicht nur effektsicher die richtigsten Töne, sondern strich ihn auch mit einer Akkuratesse, die unter Jazzern selten ist.
Beim vorletzten Song kramten wir erfolglos im Gedächtnis nach dem Interpreten des Originals. Anita Baker? Paul Young? James Ingram? Nein, "I Wonder Why" stammt dummerweise von Curtis Stigers himself, das war sein erster und größter Hit aus dem Jahr 1991, hier in einer tollen Jazz-Version. Also was nun: Ist es doch der Song und nicht der Sänger?