Der Anruf aus Stockholm hat die Autorin sprachlos gemacht: “Ich kann es noch immer nicht glauben, mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen.“

Stockholm/Hamburg. Genau zehn Jahre nach der Auszeichnung von Günter Grass geht der Nobelpreis für Literatur wieder nach Deutschland. Die Schriftstellerin Herta Müller wurde am Donnerstag von der Schwedischen Akademie in Stockholm mit der höchsten Auszeichnung der literarischen Welt gewürdigt. Die 56 Jahre alte Rumäniendeutsche lebt nach bitteren Erfahrungen mit Zensur und politischer Verfolgung seit ihrer Ausreise 1987 in Berlin. Sie gilt zur Zeit als wichtigste Stimme der deutschen Minderheit Rumäniens und thematisiert in ihren Büchern immer wieder die menschenverachtenden, grausamen Seiten des Kommunismus.

Die Schriftstellerin rechnete nach eigenen Worten nicht damit, in diesem Jahr den Literaturnobelpreis zu bekommen. „Ich habe es nicht erwartet, ich war sicher, es passiert nicht“, sagte die 56-Jährige in Berlin. „Ich kann auch noch gar nicht darüber reden“, meinte sie. Es sei noch zu früh, sie brauche Zeit, um das einzuordnen. Müller, ganz in schwarz gekleidet, sagte, der Preis sei nicht für sie, sondern für ihre Bücher. „Das ist die richtige Art, damit umzugehen.“ Sie fügte hinzu, sie verstehe ihr Schreiben in dem Sinne, dass sie über 30 Jahre in Rumänien in einer Diktatur gelebt habe und darüber berichte. Ihr Weggehen nach Deutschland sei ein Glück gewesen, denn es habe viele Leute, auch Freunde gegeben, die die Diktatur nicht überlebt hätten. „Mein Schreiben hatte immer damit zu tun, wie konnte es so weit kommen, dass sich eine Handvoll Mächtige das Land unter den Nagel reißen. Woher nehmen sie sich das Recht“, sagte sie in der kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. In Deutschland fühle sie sich frei, betonte Müller, die seit 1987 hier lebt. „Ich kenne den Unterschied, wenn man jeden Tag morgens Angst haben muss, dass man am Abend nicht mehr existiert.“ Müller sagte, der Nobelpreis werde sie nicht verändern. „Ich bin die Person, die ich bin.“ Sie werde jetzt nichts Besseres oder Schlechteres.

Mit Herta Müller würdigte die Schwedische Akademie zum 13. Mal in ihrem mehr als 100-jährigen Bestehen einen Vertreter der deutschsprachigen Literatur. Sie ist die zwölfte Frau unter allen Preisträgern. Ihr jüngste Buch „Atemschaukel“ war im Hanser Verlages (München) erschienen . Sie habe auf den Anruf aus Stockholm zuerst nur mit einem „herrlichen Lachen“ reagiert, sagte der Chef der Nobelpreis-Jury, Peter Englund. „Ihr fehlten ganz einfach die Worte. Aber sie versprach, dass sie bei der Verleihung in Stockholm am 10. Dezember die Sprache wiedergefunden hat.“

Herta Müller zeichne durch „Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“, begründete die Schwedische Akademie ihre Entscheidung. „Das Vergangene ist für sie immer lebendig“, beschrieb Englund ihr Werk. „Als ich ihre Bücher gelesen habe, hat mich das innerlich erschüttert. Sie schreibt völlig ehrlich, mit einer unglaublichen Intensität.“

Noch wenige Tage vor der Zuerkennung des Nobelpreises hatte sich Herta Müller äußerst skeptisch über ihre Chancen geäußert, obwohl sie seit Jahren immer wieder als Kandidatin gehandelt worden war. „Ich glaube nicht daran“, sagte sie im dpa-Gespräch. „Ich bin kein Star und mag auch nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Ich mache meine Arbeit wie gewohnt im Stillen weiter.“

Spröde und unsentimental im Stil verarbeitet Müller Erlebnisse von Fremdheit und politischer Verfolgung. Ihr Lebenswerk zeugt von schmerzhaften Erinnerungen an eine düstere Vergangenheit unter dem Ceausescu-Regime und den Erfahrungen der deutschen Minderheit in dem Land. In der rumänischen Region Banat, der Heimat der Banater Schwaben, stand Müller während des Kommunismus einem oppositionellen Kreis nahe. Aufgrund ihrer Weigerung, mit der Geheimpolizei Securitate zusammenzuarbeiten, wurde sie arbeitslos. Nachdem sie die Diktatur in ihren ersten Büchern öffentlich kritisiert hatte, kam ein Publikationsverbot hinzu. Ihr gerade erschienener Roman „Atemschaukel“ schildert die grausamen Erfahrungen eines 17-jährigen Deutschen, der im Zweiten Weltkrieg von Russen aus Rumänien zur Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion deportiert wird. „Atemschaukel“, das Müller mit Hilfe des rumäniendeutschen Lyrikers Oskar Pastior recherchiert hat, steht auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, der in der kommenden Woche auf der Frankfurter Buchmesse vergeben wird.

Für den Literaturkritiker Hellmuth Karasek ist es ein „sehr eindrucksvolles Buch über die Menschenzerstörung im Kommunismus“. Sie erreiche damit die Kraft eines Autors wie Alexander Solschenizyn („Der Archipel Gulag“). Der Alltag in einem erstarrten, totalitären System ist auch das Thema von Herta Müllers Roman „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992). „Herztier“ (1994) beschreibt das Leben der Oppositionellen in Rumänien. Vor 100 Jahren Nobelpreis für Selma Lagerlöf Der Spitzenverband der deutschen Buchbranche reagierte mit „uneingeschränkter und riesiger Freude“ auf Müllers Auszeichnung. „Sie ist eine der größten Stimmen, die wir haben. Kräftig und fein“, sagte der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder. International gesehen habe die Entscheidung wenige Tage vor Beginn der Frankfurter Buchmesse über die Literatur hinaus auch eine „politische Wirkung“.

Bundespräsident Horst Köhler hat der Nobelpreisträgerin per Glückwunschschreiben gratuliert. Es sei eine besonders glückliche Fügung, dass Müller gerade in diesem Jahr ausgezeichnet werde, in dem an das Ende der Diktaturen in Osteuropa vor zwanzig Jahren erinnert werde. Immer wieder habe Müller gegen das Vergessen angeschrieben und so an den hohen Wert der Freiheit erinnert, die niemals selbstverständlich sei, betonte Köhler.

Ein bisschen verhalten freute sich Müllers Mutter über die große Ehre für ihre Tochter: „Es ist wirklich schön für sie, aber als Mutter wäre ich auch froh, wenn sie mehr bei mir wäre“, sagte Catarina Müller der dpa. „Der Beruf der Schriftstellerin war mir eigentlich nicht so recht. Man schläft doch auch ständig in anderen Betten bei diesen vielen Veranstaltungen und Lesereisen.“ Müller erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Würth-Preis für Europäische Literatur. Seit 1995 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Genau vor 100 Jahren wurde mit der Schwedin Selma Lagerlöf die erste Frau überhaupt mit dem Preis ausgezeichnet. Zu den bisherigen Trägerinnen gehören auch die Österreicherin Elfriede Jelinek, Toni Morrison, Nadine Gordimer und Pearl S. Buck. Im vergangenen Jahr hatte der Franzose Jean-Marie Gustave Le Clézio den Preis bekommen.

Der Literatur-Nobelpreis wird stets am 10. Dezember in Stockholm vergeben, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel (1833-1896). Die Auszeichnung ist aus der Stiftung von Nobel mit umgerechnet rund einer Million Euro dotiert. Die Urkunde wird von König Carl XVI. Gustaf in Schwedens Hauptstadt überreicht.