Jugendbücher wie Stephenie Meyers “Bis(s)“-Romane brechen Rekorde. Ist die Literatur kindlicher geworden - oder der Leser?

Hamburg. Musik, Fernsehen, Kino - überall hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Jugendkultur durchgesetzt. Inzwischen dominiert sie auch in der Literatur. Zumindest auf den Bestsellerlisten. Blickt man auf die ersten 15 Plätze der aktuellen Belletristik-Bestseller, gehören sieben davon Büchern, die sich eigentlich an junge Leser wenden.

Vier "Bis(s)"-Werke der extrem christlichen Stephanie Meyer zählen dazu, in denen Vampire, die nicht altern, die Haupthelden sind. Dann dreimal Cornelia Funke mit ihren "Tinten"-Romanen, die jeweils parallel zu den "Harry Potter"-Romanen erschienen und mit einer Startauflage von einer halben Million Exemplare in die Buchhandlungen kamen. Eine Auflage, die 99 Prozent aller Autoren niemals erreichen werden. Auch Eoin Colfers "Artemis Fowl"-Fortsetzung ist auf den ersten Plätzen, die Geschichte eines jugendlichen Meisterdiebes, der sich auf eine Zeitreise begibt. Zum Start dieser Bücher werden Mitmachaktionen und Look-alike-Wettbewerbe veranstaltet, wo es zugeht wie auf einer gigantischen Geburtstagsfeier für Zehnjährige. Ist das noch Literatur, die wir lesen wollen? Literatur, die uns die Auseinandersetzung mit dem Individuum und der Geschichte in Werken von tieferer Bedeutung und höherer sprachlicher Qualität vorführt? Ist die Literatur infantilisiert oder sind es die Leser?

Klar, heute wollen alle Menschen jung sein. Mit den nur Kindern zugebilligten Verhaltensweisen wie Verantwortungslosigkeit und Ich-Bezogenheit. Aber müssen ihnen deshalb auch Zauberer-, Hexen- und Drachengeschichten gefallen? Müssen sie deshalb mit ihren Lesestoffen in ihre Kindheit und Jugend zurückfallen? In eine Zeit, als die altersgemäßen Bücher Identifikationsfiguren lieferten, die die Welt, welche die Erwachsenen in Schutt und Asche gelegt hatten, von einer übermächtigen bösen Macht befreiten. Nur in der Kinderliteratur darf man ja noch daran glauben, dass die wichtigen Dinge des Lebens einer sinnvollen Ordnung folgen. Kein Wunder, dass auch Erwachsene sich gerne diesen Rettungs- und Tröstungsfantasien hingeben. Schließlich kennt die moderne Erwachsenenliteratur kaum Beruhigendes. Da ist von Ehebruch, Tod, Krankheit oder schweren Schicksalsschlägen die Rede, Erwachsenenthemen also. Wie schön ist es da für viele, dass sich mit der Jugendliteratur für Erwachsene die Zuflucht in eine universelle Kindheit anbietet. In der es egal ist, wie alt man ist, weil man dieses Gemeinschaftserlebnis der Lektüre mit Millionen Lesern weltweit teilt. Auch das gibt Halt und Trost. "Eskapismus" sei diese Flucht ins Kindliche, vermutet Hans-Magnus Enzensberger, eine - möglicherweise verständliche - Flucht aus der Welt ins Fantastische, die angesichts der Stürme der Finanzmarktkrise beängstigend unüberschaubar wurde. Die drückende Dominanz der Fantasy-Literatur steht auch in symbiotischer Verbindung mit Computerspielen, die alte Mythen, Volksmärchen oder Sagen mit ihren schillernden Gestalten, königstreuen Feudalgesellschaften und horrenden Archetypen in fantastischen (Rollen-)Spielen wie "World of Warcraft" oder "Gothic" in wilden Landschaftspanoramen und Schlachtenexzessen inszenieren. Auch da können Alt und Jung zusammen spielen und einander versichern, dass man gemeinsame Werte und Ziele hat.

Jugendbücher machen knapp 15 Prozent Umsatz am Gesamtmarkt der Buchhandlungen aus. Eine kleine Umfrage unter Buchhändlerinnen ergab, dass anfangs zwar die Eltern all diese Jugendbücher für ihre Kinder kauften. Dass sie dann aber die Jugendbücher zunehmend auch selbst lesen wollten. Die Marktstrategen haben das bald erkannt und beispielsweise die "Harry Potter"-Bände mit Umschlägen versehen, die sich direkt an Erwachsene wandten. "Harry Potter" wird zu 70 Prozent von Erwachsenen gekauft und nur zu 30 Prozent von Kindern und Jugendlichen. Inzwischen bilden diese Jugendbücher "die existenzielle Absicherung der Buchhandlungen", wie es von Buchhändlern heißt.

Selbst die Präsentation der Bücher in den Buchhandlungen hat sich gewandelt. Statt auf alphabetisch aufgestellte Buchrücken blickt man jetzt auf Erlebnistische und Themenlandschaften, die - gern unordentlich gestapelte, so sieht es mehr nach Kinderzimmer aus - Bücher frontal unter einem Motto wie "Glückliche Momente" präsentieren. Eine ganze Erlebniswelt ergibt sich so, ähnlich wie im Spaßbad oder im Kinderparadies bei Ikea. Zum Drumherum gehören CDs, DVDs, Geschenke, Papierwaren, Kalender. So wird zum Blättern, zum Spiel mit dem Buch animiert.

Schaut man weiter unten auf den Bestsellerlisten, gibt's da Weiteres von Rowling (Literaturkritiker Denis Scheck bezeichnet ihr "Märchen von Beedle dem Barden" als "so spannend wie eine Obdachlosenzeitung"), Funke und Co. wie "Eragon. Die Weisheit des Feuers" von Christopher Paolini und anderes, das eher dem Amüsement als der wirklichen Lektüre dient, etwa "Weiberabend", "Die Tochter der Wanderhure", "Urlaub mit Papa" oder "Jesus liebt mich". Kaum dass der ewige Nobelpreiskandidat Philip Roth noch auf Platz 19 der Liste erscheint. Oder die verschachtelt klugen Geschichten von Erfolgsautor Daniel Kehlmann auf Platz vier. Anspruchsvolle Literatur hatte es nie leicht. In einer Zeit, in der die Leser forciert jugendlich sein wollen und die Buchhandlungen auf "Schnelldreher" setzen, hat sie es vielleicht sogar schwerer denn je.