Sie sind alles andere als frühlingshaft, die Bücher, die derzeit umfassend rezensiert werden: Christoph Schlingensief verarbeitet in “So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein“ seine Krebserkrankung, Moderatorin Sarah Kuttner erzählt in “Mängelexemplar“ die (fiktive) Geschichte einer Depressiven. Und Judith Hermann legt nun mit “Alice“ fünf Erzählungen vor, die allesamt um den Tod kreisen.
Sie sind alles andere als frühlingshaft, die Bücher, die derzeit umfassend rezensiert werden: Christoph Schlingensief verarbeitet in "So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein" seine Krebserkrankung, Moderatorin Sarah Kuttner erzählt in "Mängelexemplar" die (fiktive) Geschichte einer Depressiven. Und Judith Hermann legt nun mit "Alice" fünf Erzählungen vor, die allesamt um den Tod kreisen.
Judith Hermann - das ist jene Frau, die 1998 mit einem schmalen Erzählband und einem Autorenfoto in die Literaturgeschichte einging. "Sommerhaus, später" hieß das Buch über knapp 30-jährige Menschen auf der Suche nach - ja, nach was eigentlich? Nach Liebe und Halt oder einfach nach ein wenig Spaß im Leben. Das Foto zeigte ein leicht madonnnenhaftes Frauengesicht; der Pelzbesatz auf dem Mantelkragen bedeckte schützend den schmalen Hals. Es lag etwas Verletzliches, Verlorenes in ihrem Blick - und passte damit so wunderbar zur leisen-poetischen Sprache und zum Buchinhalt, den eine Aura von Melancholie durchwehte. Hermann prägte mit "Sommerhaus, später" das, was fortan der "Sound einer neuen Generation" hieß. Das Ergebnis: Bestsellerlisten, Kleistpreis, Übersetzungen in 17 Sprachen.
Inzwischen ist Judith Hermann 39 Jahre alt, sie hat ein Kind bekommen und einen weiteren Band mit Erzählungen ("Nichts als Gespenster") vorgelegt, der verfilmt wurde. Vor allem aber hat sie sich von ihrem Image als "Fräuleinwunder" und Stellvertreterin einer ganzen Generation emanzipiert - auch wenn diese Assoziationen mit jeder neuen Publikation kurz und heftig hochkochen. Ein Buch von Judith Hermann - das ist ein Ereignis im Literaturbetrieb.
Der Tod ist in "Alice" vom ersten Satz an präsent: "Aber Micha starb nicht." Micha stirbt dann doch, nur erst ein paar Tage später. Was passiert in diesen Tagen, in denen man auf den Tod wartet, davon handeln die Geschichten. Es sind Tage zwischen Wachheit und Traum; Tage, in denen alles seine Gültigkeit verliert und die deshalb seltsam klar sind und reduziert auf das Wesentliche. Es sind Extremsituationen, auf die man mit alltäglichen Dingen reagiert: Autofahren, Spazierengehen, Schlafen. Situationen stimmungsvoll aufzuladen, darin besteht seit je Hermanns Talent: "Die Zimmertür war angelehnt, das Quietschen der Schuhe der Krankenschwestern tröstlich, das Klingeln des Telefons in der Schwesternstation, das Rumpeln des Fahrstuhls, Flüstern und Gelächter, andauernde Geschäftigkeit, der Essenswagen rollte am Zimmer vorbei, manchmal kam eine der Nonnen rein."
Als Titel tragen die fünf Geschichten jeweils den Namen des Mannes, der stirbt beziehungsweise bereits gestorben ist: Micha, Conrad, Richard, Malte und Raymond. Es sind Liebhaber und väterliche Freunde, ein Onkel und der langjährige Lebensgefährte. Sie sterben unerwartet oder stehen schon unter Morphium. Weniger als um die Männer aber geht es um die Hauptperson, die sich durch alle Erzählungen zieht: um Alice. Wie reagiert Alice auf den Tod der ihr nahestehenden Menschen? Wie geht sie mit der Ohnmacht um, mit den Erinnerungen, die das Hier und Heute überlagern?
Auf Erklärungen verzichtet Hermann: Woran die Männer sterben, ist so unwichtig wie ihr Beruf und ihr Aussehen. Es bleibt dem Leser überlassen, sich auszumalen, wie und wann das Kennenlernen stattgefunden hat, und damit auch das Ausmaß des Abschiednehmens zu erspüren. Was Hermanns Prosa ausmacht: ihre Kunst, kurze, einfache Sätze in unaufgeregtem Tonfall aneinanderzureihen - und trotzdem das Nichtgewachsensein, die Ohnmacht dem Tod gegenüber spürbar zu machen. "Alice" ist von großer Lebenstraurigkeit durchzogen und doch tröstlich. Denn es zeigt eines ganz deutlich: Sei es die Erinnerung an ein Lächeln, einen gemeinsam verbrachten Tag oder ein angebissenes Mandelhörnchen in der Jackentasche - es gibt so vieles, das bleibt.
Judith Hermann: Alice. S. Fischer Verlag, 189 Seiten, 18,95 Euro.