In ihren Konzerten verlieren Teenager schon mal den Verstand, im Ausland stürmen Fans die Goethe-Institute, um Deutsch zu lernen. Jetzt hat der Sender MTV die Gruppe um Bill Kaulitz als weltbeste Live-Band gekrönt. Solch ein Erfolg ist nicht planbar. Er hat auch etwas damit zu tun, dass sich die junge Internet-Generation mit ihren Idolen auf Augenhöhe fühlt.

Hamburg. Hamburgs Color-Line-Arena, 2. Mai 2007. Das Konzert von Tokio Hotel ist gerade zu Ende, da passiert es: Schlagzeuger Gustav Schäfer wirft sein vollgeschwitztes Handtuch in die erste Reihe und eine Traube von Mädchen, die kurz vorher noch Plakate mit Sprüchen wie "Bill, Du bist süßer wie jede Erdbeere" hochgehalten haben, stürzt sich auf das Stück Stoff. Mindestens 20 Handpaare krallen sich in den begehrten Fetzen, die Teenager drängeln, kreischen, ziehen einander an den Haaren. Die Saalordner sind hilflos.

Draußen vor der Arena warten noch Hunderte Eltern auf ihre Kinder, die teilweise 20 Stunden vor den Eingängen campiert hatten, um einen Platz in den ersten Reihen zu bekommen. Am Ende bleiben umherwehende Fetzen von Wärmefolien zurück, die Rettungssanitäter in der Nacht an frierende Fans ausgegeben hatten.

Es sind stumme Zeugen eines deutschen Pop-Phänomens, das wie ein Monsun in den letzten Monaten auch über Europa, die USA und Südamerika hinwegfegte. Allein in diesem Jahr heimste Tokio Hotel unter anderem eine Goldene Kamera, einen Echo, VIVA-Cometen sowie zahlreiche nord- und lateinamerikanische und europäische MTV-Awards ein. Nicht nur Musik-Experten, Eltern und "TH-Hasser" (Fan-Jargon für die Gegner von T okio H otel) rätseln wieder und wieder, wie das Phänomen zu erklären ist. Dabei war alles so einfach. Oder nicht?

Das System Tokio Hotel beginnt bereits im Jahr 2003. Da entdeckt der Musikproduzent Peter Hoffmann bei der SAT.1-Casting-Show "Star Search" den 14 Jahre alten Bill Kaulitz. Der fliegt zwar früh aus dem Wettbewerb, doch Hoffmann schaut sich Kaulitz' Schülerband in deren Probenraum in einem Dorf bei Magdeburg an - und ist begeistert. Er lädt die vier Jungs, die sich damals noch Devilish nennen, in sein Studio ein und macht mit ihnen Demo-Aufnahmen. Der Musikkonzern SonyBMG schließt mit der unbekannten Newcomerband für viel Geld einen Vertrag, weil man das Potenzial erkennt. Doch als das Debütalbum fertig ist, bekommen die Manager angesichts des hohen Marketing-Etats kalte Füße und steigen aus dem Vertrag aus. 2005 nimmt der Konkurrent Universal die vier von Tokio Hotel unter Vertrag und startet das Projekt mit großem Werbeaufwand und der massiven Unterstützung der Zeitschrift "Bravo". Die Macher des Jugendmagazins hatten erkannt, dass man nach den Erfolgen der Gruppen Juli und Silbermond mit Tokio Hotel auch Rockmusik bei der Generation der Acht- bis Zwölfjährigen an das Kind bringen kann. Bereits am 3. August 2005 veröffentlicht "Bravo" eine Story unter dem Titel "Tokio Hotel - die neue Superband". Die erste Single "Durch den Monsun" erscheint erst fünf Tage später.

In den vorangegangenen zwei Jahren haben Hoffmann und ein weiteres Produzententeam, zu dem auch der jetzige Manager David Jost gehört, die Band mit Musik- und Gesangsunterricht gedrillt, um sie auf den dann folgenden Höhenflug vorzubereiten. "Durch den Monsun" läuft auf allen Videokanälen, die "Bravo" denkt sich jede Woche eine neue Story über Bill, seinen Zwillingsbruder Tom und die beiden anderen Bandkollegen Gustav und Georg aus und steigert so seine Auflage. "Tokio Hotel ist die beste Newcomerband seit Jahrzehnten gewesen. Tom und Bill Kaulitz hatten Star-Appeal, sie waren speziell, und deshalb haben wir die Band von Anfang an massiv gepusht", sagt Christian Schommers, stellvertretender Chefredakteur der "Bravo". Und Alex Richter, der weltweite Tourveranstalter von Tokio Hotel, schwärmt: "Ich habe noch mit keiner Gruppe gearbeitet, die so fleißig und so diszipliniert ist." Dennoch: Ein Erfolg wie der von Tokio Hotel ist trotz aller Marktmacht der Strategen im Hintergrund nicht planbar. Die von Universal 2006 und 2007 ins Feld geschickten Tokio-Hotel-Derivate Killerpilze und Cinema Bizarre waren aus kommerzieller Sicht ein Flop, weil die Zielgruppen das Spiel schnell durchschauten. Denn die Fans, nicht die "Bravo" oder die PR-Abteilungen der Plattenfirmen, sind es, die das geschaffen haben, was Tokio Hotels Erfolg vielleicht am meisten begründete: die Gemeinschaft. Wie nie zuvor in der Geschichte von Pop-Bewegungen sind ihre Antreiber weltweit im Internet über Myspace, Youtube und andere Communitys vernetzt und tauschen sich dort aus. Die Myspace-Seite von Tokio Hotel verzeichnete in zwei Jahren mit acht Millionen Besuchern doppelt so viele wie die der Rolling Stones, das Video zum Song "Schrei" wurde auf Youtube neun Millionen mal aufgerufen.

Wer Bill, Tom, Gustav und Georg liebt, der weiß also, dass er nicht allein ist. Denn der Druck auf Teenager, sich in Sachen Pop-Musik eindeutig zu positionieren, ist so alt wie der Pop selber. Beatles oder Rolling Stones? Prince oder Michael Jackson? Take That oder Backstreet Boys? Tokio Hotel oder nicht Tokio Hotel? Die Trennlinien auf dem Schulhof sind klar gezogen. Das "Von den Deppen bist Du Fan?" hört man immer wieder, wie die Öjendorfer Schülerin Bianca B. Breitenfeldt für das Abendblatt-Projekt "Schüler machen Zeitung" das Dilemma beschrieb.

Und doch ist es heute einfacher, Leidenschaftsgenossen zu finden als zum Beispiel noch in den 90ern, als Take That oder die Kelly Family das stark polarisierende "Bravo"-Ding der Stunde waren. Der Schulkamerad lästert? Die Eltern haben kein Verständnis? Egal. Das macht die Treue der Fans nur stärker. In den Internet-Foren diskutiert man Tokio-Hotel-Neuigkeiten, schaut sich Videos von Konzerten an und verabredet sich für Konzerte.

Und dort, bei den Konzerten, sind alle vereint: "Dieses Gefühl, wenn das Licht ausgeht, ist einfach unbeschreiblich - Adrenalin pur" schrieben Franziska Krüger und Janina Hünerberg aus Blankenese für "Schüler machen Zeitung". Rock-Riffs und Mädchen-Kreischen schaffen einen Phon-Orkan, der den Verstand aussetzen lässt - Emotion pur. Die Fans und die gleichaltrige Band singen über Gefühle, Liebe, Liebeskummer, Ablehnung und Auflehnung und sind eins - zumindest bis Gustav das Handtuch wirft.

Diese Dynamik überwindet alles, sogar Sprachbarrieren fallen, sei es, dass Tokio-Hotel-Songs auf englisch neu aufgelegt werden oder Fans in Frankreich und anderswo die Goethe-Institute stürmen, um rasch etwas Deutsch zu büffeln. Im Ausland entstand der Rummel zuerst über den Look der Band, der mit seiner Mischung aus androgyner Manga-Diva (Bill), Skater-Boy (Tom), Rocker (Georg) und Knuddelbär (Gustav) in Frankreich oder in den USA wie zuvor in Deutschland eine im Mainstream noch unbekannte Nische besetzte. Der Rest war Rock über Gefühle, die bei jungen Menschen weltweit identisch sind. Dass die Songs aus fremder Feder stammen und die PR-Mühle auch den letzten Euro herausholt, ist Nebensache, solange es die Jungs glaubwürdig schaffen, mit ihren Fans auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Wie lange aber werden Bill, Tom, Gustav und Georg noch oben bleiben? Erste Anzeichen abnehmender Popularität in Deutschland wie die nicht ausverkaufte jüngste Tour wird durch den enormen Druck im Ausland überdeckt, sorgt aber bei vielen hiesigen Fans für das Gefühl, vernachlässigt zu werden.

Und die Band selber? Einen Absturz, so die vier in "Bravo", würden sie "nicht verkraften, wir haben alles für die Band aufgegeben - ein normales Leben ist ja kaum noch möglich."

Und so will sich Tokio Hotel weiter etablieren, ein drittes Album aufnehmen, Neues wagen. Und beweisen, dass sie nicht, wie es in einem ihrer Songs heißt, "totgeliebt" sind.