Man muss schon viel Temperament haben und mindestens genauso viel Wut in sich aufgestaut, um die folgenden Sätze ernst zu meinen: “Manchmal denke...
Man muss schon viel Temperament haben und mindestens genauso viel Wut in sich aufgestaut, um die folgenden Sätze ernst zu meinen: "Manchmal denke ich, ich bin die einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben." Und Sascha meint es ernst mit ihren Plänen - bis ihr bei deren Ausführung das Leben dazwischenkommt.
Saschas Familie ist von Moskau nach Deutschland gekommen; erst kürzlich hat die 17-Jährige ihre Mutter verloren. Ermordet von Vadim, ihrem gewalttätigen Ex-Freund, der seither im Gefängnis sitzt. Großcousine Maria aus Novosibirsk kümmert sich um Sascha und die jüngeren Geschwister. Maria spricht zwanzig Wörter Deutsch - darunter Bus, Kartoffel und fick dich - und ist damit beschäftigt, zwischen den nach Bratkartoffelfett stinkenden Fluren der Hochhaussiedlung bei Frankfurt eine Art Zuhause zu schaffen. Ein Zuhause also, das man gemeinhin als "sozialen Brennpunkt" bezeichnet. Dennoch ist "Scherbenpark", Alina Bronskys Romandebüt, weit davon entfernt, eine Sozialstudie zu sein - im Gegenteil. Die Autorin zeichnet keine Mitleidsprosa und stellt keine Tristesse aus. Und erzählt trotzdem wie selbstverständlich von Unglück und tief sitzender Traurigkeit.
Sascha ist hochbegabt, Jahrgangsbeste auf einem Elitegymnasium - auch wenn sie vermutet, nur angenommen worden zu sein, um an ihr "ein bisschen Integration zu proben". Sie ist zupackend, eigenwillig; aus ihrem Tatendrang gewinnt der Roman sein Tempo, aus ihren Spitzzüngigkeiten seinen Witz. Als Sascha beschließt, ihrer Familie vorerst den Rücken zu kehren, nimmt der Roman eine überraschende Wendung. Auch der Tonfall wechselt, wird ruhiger und weniger schnodderig. Sascha kommt bei einer Zufallsbekanntschaft unter, einem Journalisten und seinem Sohn. Hier entwickelt die bekennende Männerhasserin, die das andere Geschlecht bislang in Versager und Schweine unterteilt hat, eine ungewohnte Zuneigung zu ihren neuen Mitbewohnern, vor allem zu dem 16-jährigen lungenkranken Felix. Doch wer meint, an dieser Stelle käme ein ordentlicher Schuss Romantik in die Handlung, wird enttäuscht.
Alina Bronsky (ein Pseudonym) wurde 1978 in Jekaterinburg geboren, mit 13 Jahren zog sie nach Deutschland - autobiografische Bezüge liegen damit auf der Hand. Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ging sie wider Erwarten leer aus - und war dennoch die wohl meistbeachtete Autorin. Ihr Etikett: "Talent mit Migrationshintergrund". Doch weder brauchen Buch und Autorin einen Literaturpreis noch die Fräuleinwunder-Trumpfkarte, um zu überzeugen. Das gelingt allein mit der charmant-warmherzigen, sprachlich dichten Adoleszenzgeschichte, die "Scherbenpark" in jedem Falle ist.
Alina Bronsky: Scherbenroman. Kiepenheuer & Witsch, 286 Seiten, 16,95 Euro.
Alina Bronsky liest am 4.11., 20 Uhr im Buchladen Osterstraße. Eintritt: 6 Euro