Die CD-Absatzzahlen sinken, die Bosse großer Plattenfirmen werfen Mitarbeiter und Stars wie Ballast ab. Ein Verhalten, das den Niedergang der bisherigen Phono-Branche beschleunigt.

Hamburg. "Wenn wir die 'Labels'-Büros besuchen, haben wir das Gefühl, ein Geisterschiff zu betreten. Die Flure sind leer, die Gesichter, die übrig geblieben sind, müde und traurig. Einige lesen sich gegenseitig unverhohlen Stellenanzeigen vor, während wir auf der anderen Seite der Glaswand unsere Interviews geben. Sven Hasenjäger kämpft wie ein guter Kapitän um die Moral seiner dramatisch dezimierten Mannschaft und erinnert dabei manchmal an einen Eisbären, der mit je einem Fuß auf zwei auseinanderstrebenden Eisschollen balanciert. Die verbliebenen 'Labels'-Mitglieder geben ihr Bestes, sind aber völlig ausgelaugt, da jeder statt eines nun drei Jobs gleichzeitig macht."

So beschreiben Wir Sind Helden, eine der erfolgreichsten deutschen Rockbands der vergangenen fünf Jahre, die aktuelle Situation bei ihrer Plattenfirma Labels. Labels sitzt mit den Firmen Virgin Records und Mute in einem Hinterhofgebäude am Leuschnerdamm in Berlin. Am 29. Februar gehen dort nicht nur im übertragenen Sinne die Lichter aus. Und das nicht etwa, weil die Firmen nicht erfolgreich gearbeitet hätten: Die Entscheidung darüber, dass fast 20 Leute sich neue Jobs suchen dürfen, wurde in der Londoner Zentrale des EMI-Konzerns im Zusammenhang mit einem massiven Stellenabbau gefällt. Labels, Mute und Virgin sind EMI-Tochterunternehmen.

EMI ist jene legendäre Plattenfirma mit dem Firmenlogo, auf dem ein Hund in ein Grammofon bellt: "His Masters Voice". Master des EMI-Konzerns, der Künstler wie Robbie Williams, Coldplay und Kylie Minogue unter Vertrag hat, ist seit zwei Jahren der Investmentbanker Guy Hands. Und der möchte nicht jungen talentierten Bands unter dem EMI-Dach einen Hort für kreative Entfaltung und erstklassige Popmusik geben, sondern vor allem Geld verdienen. Das allerdings ist in Zeiten eines veränderten Musikgeschäftes mit rapide sinkenden Absatzzahlen für physikalische Tonträger wie der CD kein leichtes Unterfangen.

Hands will ein Drittel der weltweit etwa 5500 EMI-Angestellten entlassen, um profitabler zu arbeiten. Auch Tausende der bei EMI unter Vertrag stehenden Künstler, von Hands als "faul" bezeichnet, sollen ihre Verträge verlieren, weil sie nicht genug Rendite machen. Einige seiner Stars haben Widerstand angekündigt, andere wie die Rolling Stones, Radiohead oder Kate Bush haben ihrerseits die EMI bereits verlassen.

Wie es aussieht, werden auch Wir Sind Helden für Labels und damit die EMI keine weiteren Platten veröffentlichen. Der Grund ist einfach: Die Musikmanager, die die Band entdeckt, unter Vertrag genommen und aufgebaut haben, sind nicht mehr bei der EMI. "Wichtig in diesem Geschäft ist es, die Künstler zu verstehen und eine Bindung zu ihnen aufzubauen. Die wollen nicht von jemand vertreten werden, der vorher zum Beispiel bei Iglo gearbeitet hat und sich zwar mit Marketingplänen auskennt, aber kein Gefühl für Musik hat", sagt Hasenjäger, der demnächst arbeitslose Labels-Chef.

Bis Ende kommender Woche muss er sein Büro räumen. Bis dahin erledigt er seine Arbeit mit einer Mischung aus Rest-Idealismus und Galgenhumor. Für die Helden muss noch eine Single auf den Weg gebracht werden, ebenso das neue Album der Hamburger Band Fotos.

Kann man mit Popmusik demnach kein Geld mehr verdienen? Was bedeuten die rapide sinkenden Umsatzzahlen für die Branche, für die Künstler und letztlich für den Konsumenten? "Die Zukunft liegt in der Nische", glaubt Christof Ellinghaus. Er betreibt in Berlin das Label City Slang, hat so renommierte Künstler wie Calexico und Lambchop unter Vertrag und feiert gerade mit der deutschen Band Get Well Soon einen überraschenden Erfolg. Heinz Canibol, früher Deutschland-Chef beim Plattenriesen MCA und Vorgänger der Universal Group, sieht die großen Plattenkonzerne in Zukunft als "internationale Logistikzentralen, die die Musik von kleinen Labels vertreiben." Er selbst führt in Hamburg das kleine Label 105 Music und ist mit Künstlern wie Stefan Gwildis, Annett Louisan und Ina Müller höchst erfolgreich.

Die Umsätze der Tonträgerbranche sind von 1997 bis 2007 von 2,7 Milliarden Euro auf 1,6 Milliarden Euro gefallen, während sie bei Live-Konzerten kontinuierlich steigen, im vergangenen Jahr auf 2,9 Milliarden Euro. An diesem Geschäft möchten kleine und große Plattenfirmen jetzt mitverdienen. 360-Grad-Verträge heißt das Zauberwort. Dahinter verbirgt sich ein scheinbar Rundum-sorglos-Paket für den Künstler. Die Plattenfirma kümmert sich nicht nur um Produktion, Werbung und Vertrieb der Tonträger, sondern übernimmt auch das Management und kümmert sich um die Verlagsrechte und die lukrativen Tourneen. Und verdient natürlich überall mit.

Bernd Dopp, Chef von Warner Music für Zentral- und Osteuropa, bestätigt diese strategischen Maßnahmen für den einzigen in Hamburg ansässigen Plattenriesen. Die anderen drei verbliebenen sogenannten Major-Labels sind Universal in Berlin, SonyBMG in München und EMI in Köln. "Wir erweitern unser Geschäftsmodell durch Beteiligung an der Wertschöpfungskette des Künstlers, zum Beispiel an Live-Einnahmen, Merchandising und Sponsoring", erklärt Dopp.

Ob diese neue Form der Rundum-Betreuung das Überleben der Plattenfirmen sichern kann, darüber gibt es in der Branche geteilte Meinungen. Ellinghaus macht das gleiche Ziel zwischen Plattenfirma und Konzertagentur aus: "Wir wollen geile Musik unter die Leute bringen", sagt er. Sven Hasenjäger ist da pessimistischer. "Langfristig wird es keine Alben mehr geben, dann werden nur noch einzelne Songs runtergeladen. Irgendwelche Plastikfiguren, die sich Künstler nennen, werden einmal aufgepumpt und verschwinden schnell wieder vom Markt. Wenn keine Zeit mehr da ist, eine Band aufzubauen, geht die Branche den Bach runter", sagt er.

Hinter ihm an der Wand hängen Goldene und Platin-Schallplatten, die er für seine Erfolge mit Wir Sind Helden bekommen hat. Sie wirken in diesen halb ausgeräumten Büros wie Relikte aus einer glücklichen Ära, die endgültig vorbei ist.


Lesen Sie in der nächsten Woche, wie die kleinen Hamburger Labels mit der Krise der Tonträgerindustrie umgehen.