Seine Fans widmen ihm Bücher, warten stundenlang auf Einlass, besuchen fast alle seiner Konzerte - immer auf der Suche nach dem “großen Gefühl“. Beobachtungen am Rande des ersten Springsteen-Auftritts dieses Jahres in Deutschland.
Mannheim. Es ist kalt in an diesem Dezembertag in Mannheim. Windig und regnerisch. Eigentlich ein Wetter, um bei einer heißen Tasse Tee im Warmen zu sitzen - aber das kommt für Detlef aus Lippstadt nicht infrage. Seit 10 Uhr morgens steht der 39-Jährige vor der SAP-Arena an, und er ist nicht allein. 25 Fans waren vor ihm da. Einige Hundert kommen bis zum frühen Nachmittag noch dazu. Auch Bankkauffrau Ulla (51) aus dem nordrhein-westfälischen Nettetal zittert sich von einer Stunde zur anderen - sie will möglichst in der ersten Reihe stehen, wenn Bruce Springsteen am Abend mit seiner legendären E Street Band zu seinem ersten Deutschland-Konzert in diesem Jahr auf die Bühne kommt.
"Während ich hier stundenlang stehe, frage ich mich immer wieder, was das alles soll", gibt Detlef zu, "aber wenn der Mann dann den ersten Song spielt . . ." Mehr muss er nicht sagen, alle, die hier im Nieselregen stehen, wissen, was gemeint ist.
"Was rennste dem alten Mann hinterher?", habe ihre Mutter sie mal gefragt, sagt Ulla, aber das sei nicht der Punkt: "Mit seiner Musik verbinde ich einfach viele Erinnerungen an die Zeit, als ich jung war." Yvonne aus Hamburg hat gemeinsam mit zwei Freundinnen sogar ein kleines Buch über ihre Springsteen-Manie herausgebracht. "Ich fühle mich zu Hause, wenn Bruce singt", heißt es da. "Es tut mir einfach gut. Wenn dann auch noch ,My Hometown' kommt, dann muss ich immer weinen." Tatsächlich sind es große Gefühle, die der "Boss", wie ihn hier alle ganz selbstverständlich nennen, auslöst.
Das Geheimnis dieser Massenwirkung versucht Daniel Cavicchi, Amerikanistik-Dozent an der Rhode Island School Of Design, in seinem Buch "Tramps Like Us" zu lüften. Hunderte Interviews mit Fans hat er geführt und herausgefunden: "Springsteen singt über Dinge, die die Menschen selbst erlebt haben. Er ist ihnen nah und gibt ihnen die Energie, die sie brauchen, um durch schwierige Zeiten zu kommen." Konzerte seien besonders wichtig, weil sie von Fans als "spirituelles Erlebnis" empfunden werden, das ihnen Kraft für den Alltag gibt.
Anders wäre wohl kaum zu erklären, dass Frank (35), Verwaltungsangestellter bei einer Villinger Kirchengemeinde, es inzwischen auf mehr als 100 Konzerte gebracht hat. Zwölf Stunden vor einer geschlossenen Kasse anstehen, in der Hoffnung, es könne irgendwann am Abend noch Tickets für ein eigentlich ausverkauftes Konzert geben? Für ihn eine Selbstverständlichkeit. "Man muss schon was tun, um reinzukommen, und darf nicht darauf warten, dass jemand mit einer Karte vorbeiläuft." Schon 15 Konzerte hat er während der laufenden Tour gesehen - 13 davon in den USA. Auch in Mannheim schafft er es am Abend wieder bis vor die Bühne: "Ich brauche Augenkontakt zu Bruce."
Den wird Heiko aus Kassel zwar nicht haben, aber wer sich erst gegen 18 Uhr, also zweieinhalb Stunden vor Konzertbeginn, in die Schlange der auf Einlass Wartenden einreiht, darf damit auch nicht rechnen. Für den 37-Jährigen kein Problem, denn wenn er will, kann er Springsteen jeden Abend ziemlich nah sein - 700 (illegale) Konzertmitschnitte auf DVD machen's möglich. Dass er sich damit in einer rechtlichen Grauzone bewegt, stört ihn kaum, nur seinen vollen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Immerhin ist Heiko Polizist. Ein eigenes Zimmer habe er für seine Springsteen-Sammlung, erzählt er und lächelt: "Meine Frau ist da tolerant."
Natürlich haben viele Stars begeisterte Fans, die zu Konzerten gehen und CDs kaufen. Doch die Euphorie, die Bruce Springsteen seit nunmehr 35 Jahren immer wieder auslöst, ist einzigartig. Als für die derzeit laufende Tour der Vorverkauf begann, flossen mal wieder bittere Tränen der Enttäuschung bei allen, die leer ausgingen. Sechs Minuten nur dauerte es, bis die Tickets für den Auftritt in Belfast weg waren, nach 20 Minuten meldete London "sold out", und für Kopenhagen-Karten wurde bei Ebay mit 270 Euro locker der dreifache Kaufpreis erzielt.
Noch extremer geht es derzeit bei der für Sommer 2008 angekündigten Europa-Tour zu. Unter anderem wird Springsteen zweimal vor 80 000 Fans in Camp Nou, dem Stadion des FC Barcelona, auftreten. Karten für das erste Konzert zu bekommen war nahezu unmöglich, und für den zweiten Auftritt sind nur noch die unattraktiven, weit von der Bühne entfernten Plätze zu haben. Tröstlich für deutsche Fans: Für die Auftritte in Düsseldorf (16.6.) und Hamburg (21.6.) gibt's noch frei Plätze.
"Was mich an Springsteen auf der Bühne fasziniert, sind seine Energie, seine Leidenschaft und seine Authentizität", sagt Detlef. "Er ist ein fantastischer Entertainer, der das Publikum mitreißen und durch seine Performance und seine Songs in jede nur erdenkliche Stimmung versetzen kann: von tieftraurig und ergriffen bis hin zu gnadenlos albern und überdreht."
Wie sehr dieses Empfinden über alle Länder- und Sprachgrenzen hinweg existiert, wie es Menschen verbindet, die sich nicht kennen, wird später am Abend noch deutlich. Vor der Bühne drängen sich neben den deutschen Fans viele Italiener und Franzosen, im Foyer erzählt ein Waliser einem Finnen von einer kroatischen Fangruppe, die eine zwölfstündige Busfahrt auf sich genommen habe, um in Mannheim dabei zu sein. Und im Unterrang der Arena tanzt die amerikanische Generalkonsulin Joe Ellen Powell zu einem von Springsteens Anti-Bush-Songs.
Als der "Boss" und seine Band nach vier Zugaben gegen 22 Uhr 40 endgültig von der Bühne steigen, geht auch für Detlef, Ulla, Frank und Heiko ein langer Tag zu Ende. Ein bisschen wird noch über das gerade Erlebte geredet, dann wandern die Gedanken im mittlerweile strömenden Regen in die Zukunft. Am 13. Dezember werden viele sich in Köln wiedersehen, wo die Arena längst bis auf den letzten der 16 000 Plätze ausverkauft ist, auch für Paris, Belfast oder London sind schon Flüge und Hotelzimmer gebucht. "Noch mal stell ich mich aber nicht so lange an", schwört Ulla. Ob sie sich in ein paar Tagen an diese Worte erinnert? Detlef jedenfalls weiß: "Ich kenne keinen anderen Musiker, der mich bei Konzerten derart emotional bewegt. Und diese Emotionen hautnah, praktisch von Angesicht zu Angesicht mit ihm zu durchleben, ist mir das lange Anstehen immer wieder wert."