Der Literaturkritiker Denis Scheck über die Bedeutung des Meeres, Leserituale und seine Badewanne.

Hamburg. ABENDBLATT: Wo und wann lesen Sie die erste Zeile des Tages?

DENIS SCHECK: In der Badewanne - ich dusche nicht, ich bade täglich. Es gibt zwei Orte, an denen ich nur für mich lese, jenseits des Berufs: Morgens zehn Minuten in der Wanne, abends zehn Minuten vor dem Schlafengehen. Gestern war das "Der Wind in den Weiden" in der Übersetzung von Harry Rowohlt. Da gibt es eine wunderschöne Stelle, in der der Maulwurf Boot fährt und zur Wasserratte sagt: "Gibt es etwas Schöneres als Boot zu fahren?"

ABENDBLATT: Sie scheinen fast süchtig zu sein nach Wasser. Waren Sie diesen Sommer am Meer?

SCHECK: Ich war sogar an verschiedenen Meeren: Zum ersten Mal in Heiligendamm, an der Ostsee, außerdem am Atlantik. Das sind zwei vollkommen verschiedene Arten von Meer. Die Ostsee ist faszinierend. Wenn man auf dem Steg in Heiligendamm steht und auf den weißen Spiegel des Meeres blickt, fühlt man sich wie in einem Rene-Magritte-Bild.

ABENDBLATT: Ein Buch aus dem Programm des Mare-Verlags heißt "Einfach schweben - Wie das Meer den Menschen glücklich macht". Warum macht es das?

SCHECK: Das Meer ist eine Projektionsfläche, der Inbegriff eines Raumes, den wir selber mit Inhalt füllen können. Und wie wir ihn füllen, ist stets Abbild unserer psychischen Verfasstheit.

ABENDBLATT: Sie stellen in der Kunsthalle Ihre liebsten Seebücher vor. Welche sind das?

SCHECK: Erstaunlich viele Romane, die wir zur Weltliteratur zählen, sind Meeresgeschichten: "Moby Dick" von Hermann Melville ist der große Roman des 19. Jahrhunderts, James Joyces "Ulysses" der des 20. Jahrhunderts. Die stelle ich vor. Und in den letzten Jahren gibt es ganz überraschende Geschichten vom Meer, zum Beispiel Yann Martels "Schiffbruch mit Tiger" oder "Der Schwarm", einer der erfolgreichsten Romane der Nachkriegszeit. In der Mare Bibliothek hat Frank Schätzing die schönsten Meeresgeschichten seines Helden Donald Duck herausgegeben, daraus werde ich vorlesen.

ABENDBLATT: Hat sich die Bedeutung des Meeres in der Literatur im Lauf der Zeit gewandelt?

SCHECK: In der "Ilias" oder der "Odyssee" ist das Meer ein Gegner. Poseidon ist der Gott der Antike, der den Menschen am unheimlichsten war. Das hat sich gewandelt. Auch das Baden ist eine Erfindung, die noch keine 200 Jahre alt ist. Dass man zur Entspannung schwimmen geht, das wäre in der Antike undenkbar gewesen. Denn Baden ist keinesfalls naturgegeben wie das Laufen.

ABENDBLATT: Gibt es Geschichten über das Meer, die noch erzählt werden müssen?

SCHECK: Unsere Arbeitshypothese bei Mare ist: Jeder hat eine Geschichte über das Meer. Deshalb sind natürlich noch unendlich viele Geschichten nicht erzählt.

ABENDBLATT: Erzählen Sie mal eine - eine wenig bekannte!

SCHECK: Ich habe vor ein paar Jahren den Dichter Robert Gernhardt darauf angesprochen, dass in seinen Gedichten sehr viel vom Meer die Rede ist. Als er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass seine Mutter als eine der ersten Frauen der Weimarer Republik in Estland das Kapitänspatent gemacht hat - das hatte er all die Jahrzehnte verdrängt. Im Vorwort seines Buches "Meer" schildert Gernhardt, wie er und sein Bruder die 97-jährige Mutter zum ersten Mal nach 60 Jahren wieder auf einen Törn mitnehmen, mit ihr am Steuer. Das finde ich eine wunderbare Geschichte.

ABENDBLATT: Wenn Sie beim Lesen nach 20 Seiten merken: Das Buch ist Mist - legen Sie es eigentlich weg?

SCHECK: Sogar nach fünf Seiten. Und bei den jährlich bis zu 90 000 Neuerscheinungen lege ich die meisten schon nach einem Blick auf den Titel weg. Nur: Die Bücher, über die ich mich in der Öffentlichkeit äußere, die habe ich von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. In meinem Job gibt es so gut wie keine ethischen Standards - außer diesem einen.

ABENDBLATT: Lesen Sie Bücher mehrmals?

SCHECK: Ich bin kein großer Wiederleser. Deshalb tauge ich wohl auch nicht zum Literaturwissenschaftler. Nur die allergrößte Literatur von Shakespeare, Joyce, Nabokov oder Arno Schmidt verträgt meiner Meinung nach mehrfache Lektüren. So gut mir "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann gefallen hat: Ich verspüre kein Bedürfnis, es noch einmal zu lesen.

ABENDBLATT: Ulrich Wickerts Sendung ist auch deshalb eingestellt worden, weil der Moderator den Aufwand unterschätzt hat. Nachvollziehbar für Sie?

SCHECK: So ist es - das wusste schon Karl Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.