Das Scheitern als Chance begreifen! “Kapitulation“, das achte Tocotronic-Album, ist exaltierter Pop und politisches Manifest in einem.

Hamburg. "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt." Dieser Satz ist der Schlachtruf französischer Existenz-Philosophen um Jean-Paul Sartre und Albert Camus in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In dieser Philosophie dominiert die ontologische Erkenntnis, dass der Mensch in die Welt geworfen ist und fortan daran scheitert, sein Leben mit Sinn zu füllen, allen Bemühungen zum Trotz.

Auch Tocotronic beschäftigt sich auf ihrem heute erscheinenden achten Album "Kapitulation" (Universal) mit dem Prinzip des Scheiterns. Anders als Sartre & Co. besingt die Hamburger Band jedoch die Schönheit des Aufgebens und stellt es den Verzweifelten der Welt als Rat an die Seite. Für die vier Musiker markiert die Kapitulation vor allen erdrückenden Pflichten des Alltags die absolute Befreiung. Ein wenig wie Melvilles "Bartleby, der Schreiber" der jeden Zwang mit einem einfachen "I would prefer not to ..." (Ich würde vorziehen, es nicht zu tun) wegwischt. Umgekehrter Existenzialismus sozusagen: Der Mensch hat die Chance, sich zu befreien.

Bei Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail ist die Kapitulation keinem Duckmäusertum entsprungen, sie ist positiv besetzt. Arne Zank dazu im Abendblatt-Interview: "Einem wird ständig erzählt, dass man sich immer bemühen muss, fleißig zu sein, mobil, flexibel, 16 Stunden zu arbeiten und dabei noch fröhlich zu sein. "Kapitulation" vertritt die Position, auch mal "alles hinschmeißen zu können".

Ganz unverhohlen wendet sich die Band gegen die Imperative einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft und nimmt damit vielleicht ungewollt an aktuellen politischen Debatten teil. Erstmals in der 14-jährigen Bandgeschichte erweist sich die Verweigerungshaltung von Tocotronic als kollektive Handlungsmöglichkeit: "Sag alles ab / geh einfach weg / halt die Maschine an / Frag nicht nach dem Zweck" (aus "Sag alles ab").

Im "Kapitulations-Manifest" der Band, das dem Album auf der Internetseite, in Pressetexten und als Single-B-Seite vorausging, heißt es: "Vielmehr als das ordinäre Scheitern ist die Kapitulation vor allem dies: ein Zerfall, ein Fall, eine Befreiung, eine Pracht, eine Hingabe. Die endgültige Unterwerfung. Die größte aller Niederlagen und gleichzeitig unser größter Triumph. (. . .) Wir werden im Besitz der magischen Formel sein: Fuck. It. All."

Doch welche musikalische Umsetzung findet die tocotronische Botschaft auf dem neuen Album? Im hoch melodischen Titelsong zur Kapitulation versteckt sich die totale Verweigerung und das spirituelle Gedankengut des Punk hinter zuckrigen 60er-Jahre-Beats und Handclaps. Dirk von Lowtzow küsst dazu mit seiner wie mit "Weichzeichner" bearbeiteten Stimme das höflichste "Fuck It All" der Musikgeschichte ins Mikrofon. Eine simple Formel, die in der Musik auf "Kapitulation" ihre Entsprechung findet.

Vorbei ist die Zeit, da Tocotronic abgehobene Epen fabrizierte, vorbei die Zeit der poetischen Opulenz. Die neuen Tocotronic-Stücke sind auf musikalischer Ebene ganz simpel: einfache Rocksongs wie der beispielhafte Opener "Mein Ruin". Das flirrende Gitarrenduo aus von Lowtzow und McPhail, die mal aneinander vorbeischrammeln, nur um dann ineinander aufzugehen und sich in starken Dur-Melodiebögen vereinen. Untermalt von Müllers treibender Basslinie, unterbrochen immer wieder von Arne Zanks Trommelsalven, die jeden Ton und jedes Wort an die richtige Stelle peitschen.

"Kapitulation" ist exaltierter Pop im rockigen Sinne und ein wütendes Manifest des Deutschkultur-Pessimismus.

Dazu Arne Zank: "Wut war auf alle Fälle ein Ansatz bei der neuen Platte. Wir halten nichts vom überall geforderten unverkrampften Patriotismus. Deutschsprachige Musik betont ein Wohlfühlen und eine gewisse Harmlosigkeit, die einen nervt. Dem versuchen wir eine große Rockgeste entgegenzusetzen."