Musikfest: Ingo Metzmacher dirigiert Luigi Nonos Meisterwerk “Prometeo“ in der Musikhalle

Hamburg. Herman Melvilles weißer Wal und Luigi Nonos "Prometeo" haben einiges gemeinsam. Wie von dem riesigen Ungeheuer weiß man auch vom utopischen Spätwerk des Italieners, dass es da ist, irgendwo in den Tiefen der Musikwelt treibend. Wie Moby Dick taucht es auf, erscheint, überschattet alles. Und verschwindet wieder, auf ungewisse Zeit. Der Untertitel "Tragödie des Hörens" dokumentiert die Komplexität der Klänge, das Überfordertsein angesichts der kryptischen Wucht der Ereignisse. Aber er zielt vielleicht auch darauf ab, wie tragisch es ist, diese Musik wegen ihres enormen Aufwands so gut wie nie hören zu können.

"Bernsteinzimmer der musikalischen Avantgarde" hat man den sagenumwobenen, aus Sagen gewobenen "Prometeo" genannt oder "das ultimative Meisterwerk des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ein Stück, an dem alles gemessen werden kann und in dessen Umfeld nur wenig Bestand hat". Mit diesem Monolithen wollte der leidenschaftliche Humanist Nono, der in diesem Jahr 80 geworden wäre, seinen Mitmenschen das Licht der Erkenntnis bringen, den Mut zum Anderssein animieren, das Zwielicht des Zweifels an diesem Erleben darstellen - und gleichzeitig die Stille als Kategorie des Klangs wieder hörbar machen.

Der Schönberg-Schwiegersohn Nono verarbeitete, größtenteils bis zur Unkenntlichkeit, in Zusammenarbeit mit dem venezianischen Philosophen Massimo Cacciari Texte von Aischylos, Herodot und aus Hölderlins "Schicksalslied", dazu Philosophisches aus Walter Benjamins Essay "Über den Begriff der Geschichte". Doch die Worte werden zerbrochen, atomisiert, unkenntlich gemacht. "Der Text soll niemals gelesen werden, aber gehört und gefühlt", forderte Nono.

Seit der Uraufführung 1984, sechs Jahre vor Nonos Tod, gab es weltweit nur wenige Aufführungen, denn die Anforderungen sind immens: vier Orchestergruppen zu je 13 Musikern (als Nachhall der frühen venezianischen Mehrchörigkeit), dazu Solistengruppen, mehrere Chorsänger und Sprecher, zwei Dirigenten und als zentrales Nervenzentrum eine aufwendige elektronische Klangregie, die die Musik über Lautsprecher im Saal streut und steuert.

Für die Premiere in der venezianischen San-Lorenzo-Kirche entwarf der Architekt Renzo Piano eine hölzerne Klangarche, in der Zuhörer und Musiker gemeinsam auf die Reise ins akustische Ungewisse starteten. Vor seiner Uraufführung hatte der "Prometeo" noch über drei Stunden Spieldauer, vor der zweiten Aufführung, ein Jahr später in Mailand, erstellte Nono eine zweite Fassung mit etwa zweieinviertel Stunden. Ohne Pause. Doch Zeit ist ohnehin relativ bei diesem Klangmarathon.

Robert Wilson hat 1997 in Brüssel das Experiment einer szenischen Aufführung gewagt, als wäre "Prometeo" ein halbwegs herkömmlicher Musiktheaterstoff. Und ist gescheitert, denn diese Musik weit jenseits der Opern-Grenzen entzieht sich sichtbaren Bildern. Das Hör-Drama spielt sich zwischen den Ohren ab.

"Prometeo" stellt philosophische und musikalische Fragen, ohne auf Antworten hoffen zu wollen, er ist aber auch - nur verrätselter als so offensichtliche frühere Anklageschriften Nonos wie der "Canto sospeso", "Al gran sole" oder "Intolleranza" - ein Stück mit politischen Untertönen, ein kunstvoll chiffriertes Dokument der künstlerischen Auflehnung gegen Normen und Regeln der Gesellschaft.

Nonos Wegbegleiter und Tontechniker Andre Richard, der das Stück von Anfang an betreute und mitterlweile zum Lordsiegelbewahrer geworden ist, erinnert sich daran, dass Nono Ende der 80er-Jahre daran arbeitete, ein Stück über Stammheim und die Tode der RAF-Terroristen zu schreiben. Die Proben damals waren "erbarmungslos": "Wir haben mit unserem Chor Strangulationsszenen geprobt, es ging ihm wirklich ums Ganze." Das Thema überlebte Nono - sein Schüler Helmut Lachenmann verarbeitete es in seiner mittlerweile legendären Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern", die 1997 in Hamburg uraufgeführt wurde.

Dass Nonos "Prometeo" nun tatsächlich in der Hansestadt realisiert wird, hat eine lange Vorgeschichte. Schon Ende der 80er-Jahre gab es die ersten Versuche, von Jürgen Flimm und dem damaligen Generalmusikdirektor Hans Zender, das Stück zu stemmen. Für möglich gehaltene Spielstätten waren Kampnagel, der Michel, die Musikhalle. Immer wieder scheiterte es. Am Aufwand, am Geld, am Verständnis. Letztlich am Mut.

Doch für den jetzigen GMD Ingo Metzmacher ist der "Prometeo" eine Herzensangelegenheit, fast schon eine Mission. Nonos Musik ist auch deswegen der ideale Soundtrack zum diesjährigen Musikfest-Motto "Auflehnung", bei dem das Mammutwerk, gespielt vom Residenz-Orchester Ensemble Resonanz, gleich zweimal innerhalb von 24 Stunden in der Musikhalle aufgeführt wird.

Die Begegnung mit dem leisen, streitbaren Italiener als junger Dirigent 1988 in Berlin habe ihn enorm geprägt und ihm Mut gemacht, betont er immer wieder; mit einem "Prometeo" 1993 bei den Salzburger Festspielen, der sogar auf CD veröffentlicht wurde, hat Metzmacher international Punkte gesammelt. Jetzt, bei seinem letzten Hamburger Musikfest, wird das Experiment gewagt. Nicht nur musikalisch, auch finanziell und organisatorisch, denn der Große Saal der Musikhalle, für solche Stücke alles andere als gedacht, muss in nur wenigen Tagen umgebaut und probentauglich gemacht werden, um die Aufstellung von Musikern und Lautsprechern adäquat zu verwirklichen.

Als der "Prometeo" vor einigen Monaten bei der "Omaggio a Luigi Nono"-Retrospektive der Kölner Triennale von Metzmacher und dem Ensemble Modern aufgeführt wurde, in den sommerlich aufgeheizten Sartory-Sälen, die ansonsten nur für Karnevalssitzungen oder Tauschbörsen taugen, wurden die Veranstalter förmlich überrannt. Die Plätze im Saal wurden bis an die Schmerzgrenze aufgestockt, um möglichst viele Interessenten unterbringen zu können.

Der daraus resultierende Dampfsauna-Effekt jedoch war schnell vergessen, ebenso die dröhnende Kölsch-Seligkeit in den Kneipen der Umgebung. Die Sogwirkung von Nonos Werk war stärker, sie ließ Klang, Zeit und Raum verschmelzen, überwältigte das Publikum, umzingelt von neun Musikeremporen, mit ihren frei im Raum schwebenden und kreisenden Tönen. Eine Zumutung, ein Kraftakt.

Ein Ereignis.