Reaktionen: Der neue Film von Michael Moore löst in den USA Debatten aus - nun startete er in Hamburg

Hamburg. "Dieser Film sollte vor jedem Wahllokal in den USA gezeigt werden", sagt Henrik Dünow (25). Wie elektrisiert diskutiert der angehende Polizeikommissar im Foyer des Hamburger Streit's-Kinos über "Fahrenheit 9/11", das neue Werk von Doku-Provokateur Michael Moore. Der heftigste je gedrehte Frontalangriff gegen einen US-Präsidenten sorgte in Amerika für heftige Debatten. Bei der Hamburg-Premiere am Mittwochabend ließ sich erahnen, wie der Zwei-Stunden-Anti-Bush-Spot hierzulande aufgenommen werden wird.

Schon vor Beginn der Vorstellung löst das Thema, die US-Politik nach den Anschlägen auf das World Trade Center, bei Nina Alexandra Singer (22) starke Emotionen aus. Sie lebte vier Jahre in den USA. Sie war in New York, als die Flugzeuge in die Zwillingstürme rasten. "In den US-Medien wurde damals viel verschwiegen. Ich bin gespannt, wie Moore diesen Missstand aufgreift", so die Schauspielerin.

In den USA lässt "Fahrenheit 9/11" die Zuschauer fassungslos aufschreien. Viele Bilder waren dort bisher nicht durch den Zensurfilter des "embedded journalism" gekommen. Aufnahmen von Leichen etwa, die im Irak auf Lkw abtransportiert werden, sehen viele US-Bürger zum ersten Mal. Sie verstummen, als ein Soldat erzählt, dass der Panzerangriff auf Bagdad besonders gut klappe, wenn er unterm Helm harte Gitarrenmusik höre. Wenn Moore enthüllt, wie extrem grün hinter den Ohren die Jugend aus Amerikas Unterschicht in den Krieg geschickt wurde, hat das nichts mehr zu tun mit dem Militärpatriotismus, den Hofberichterstatter wie der Sender "Fox News" propagieren.

"Die Medien hierzulande berichten zum Glück kritischer", meint der Londoner Julian Gaynor nach der Vorführung im Streit's-Kino. Der Unternehmensberater vermutet, dass "Fahrenheit 9/11" bei den besser informierten Deutschen weniger Entrüstung auslösen wird. Dennoch war im Streit's mehr Resonanz zu hören als sonst: Beherzte Lacher wechseln mit entsetztem Rufen.

In den USA polarisiert Moore, der als Arbeiterkind in Michigan aufwuchs, die Massen. Laut Studie der "New York Times" ist er beliebt in den Küstenmetropolen, eher geschmäht im Süden und in der bibelfesten Mitte des Landes. Aber: Kaum jemand kommt am dicken Mann mit der Mütze vorbei. Erst das medientaugliche Gerangel mit dem Disney-Konzern um den Verleih, dann die werbewirksame "Goldene Palme" in Cannes. Im traditionell demokratisch geprägten New York reagieren viele jedoch mit einem großen "Ja, aber" auf das Machwerk des 50-Jährigen. Zunächst dominieren Schock und Scham angesichts der Schreckensmeldungen über das eigene Land, die als Videocollage auf den Betrachter niederprasseln. Schnell schwingt in Äußerungen aber Skepsis mit gegenüber der Qualität des Films. Auf der Mängelliste ganz oben: zu effektheischend, zu holzschnittartig argumentiert - und insgesamt "zu viel Moore". Es folgt dennoch die Empfehlung, "Fahrenheit 9/11" mindestens einmal anzusehen, quasi mit den Füßen abzustimmen, um die Box-Office-Zahlen in die Höhe zu treiben. Tenor ist: Um ein Zeichen gegen Bush zu setzen, schauen wir uns die zugeschnittene Meinung dieses cleveren Narzisten an. Über 100 Millionen Amerikaner sahen den Film, seit er vor einem Monat anlief. Mit einer Einspielsumme von über 100 Millionen Dollar ist er der kommerziell erfolgreichste Doku-Film. Kino ist plötzlich nicht mehr nur Unterhaltung. Kino ist jetzt Politik, Protest, Diskussionsforum - auch am Premierenabend in Hamburg.

"Moore hat eine brisante Herangehensweise. Aber durch seinen klaren Standpunkt wird der Film seriös", meint Kathrin Nowak (40), selbst Regisseurin. Kollegen loben Moore, dass er ein ganzes Genre zurück ins Rampenlicht geholt hat. Im Fahrwasser von "Fahrenheit 9/11" und dessen Vorgänger "Bowling For Columbine" schwimmen "Super Size Me", die Fresssatire, und ernsthafte Stücke wie "Control Room" über den Sender Al-Jazeera. Selbst Hollywood wird durch den "Fahrenheit"-Triumph mutiger: Paramount Pictures produzierte den Polit-Thriller "The Manchurian Candidate" mit Denzel Washington und Meryl Streep, ein Remake des Klassikers "Botschafter der Angst" (1962). Er weist Parallelen zu Bushs Liaison mit dem Energie-Konzern Halliburton auf. Ähnlich wie Moore sie darstellt.

Es sei gut, wenn sich ein Filmemacher weit aus dem Fenster lehne, meinte auch Regisseur Pepe Danquart bei der Berliner Premiere. Bundesumweltminister Jürgen Trittin war am Mittwoch übrigens der einzige Spitzenpolitiker, der der Einladung in den Hof von Schloss Charlottenburg gefolgt war. Aber die nächste Moore-Premiere kommt bestimmt: Bald will er die US-Gesundheitsbranche unter die Lupe nehmen. Henrik Dünow wird wohl auch diesen Film mit dem Arbeitstitel "Sicko" (Perverser) ansehen. Denn: "Moore hat einfach eine für Amerikaner ungewohnte Weitsicht."