Gesamtausgabe: Er ist ein scharfer Beobachter und widerborstiger Chronist. Bald gibts Eckhard Henscheid komplett.
Hamburg. Für einen wie ihn bräuchte der ordnungsliebende deutsche Literaturbetrieb einen ganzen Schubladenschrank. Denn Eckhard Henscheid (62) lässt sich nicht bequem wegsortieren. Bekannt ist er vor allem als Satiriker und gnadenloser Sprachkritiker, seine Texte sind oder waren in "Pardon" und "Titanic" zu lesen, in der "Frankfurter Rundschau" ebenso wie in der "FAZ". Die ersten drei seiner Romane hat er unter einem Titel zusammengefasst, der in der dünnen Höhenluft des Feuilletons wenig hermacht: "Die Trilogie des laufenden Schwachsinns". Eine Erzählung von ihm trägt den Titel "Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul". Der Musikliebhaber Henscheid verkündete "Mozart ist der Verdi Wagners" - ein "Opernführer für Versierte und Versehrte".
Das alles klingt nach leichter Hand und viel Jux. Doch eine auf 15 Bände geplante Henscheid-Ausgabe bei Zweitausendeins rückt das Ganze ins richtige Licht. Denn erstmals wird, was verstreut in kleineren Verlagen, in Zeitungen und Zeitschriften erschienen ist, als überraschend umfangreiches, vielfältiges und stringentes Werk deutlich, das im Kontext zu entdecken ist. Ein echter Brocken deutscher Gegenwartsliteratur in einer ansprechenden Leinenausgabe: "12 000 eng bedruckte Seiten werden es sein", schätzt Henscheid, der in der Hamburger Zentralbibliothek aus seinen Erzählungen las. 2008 sollen die Gesammelten Werke komplett sein.
Ein überraschend mächtiges Werk für einen, der Sprache so zu misstrauen scheint, dass der Eindruck entsteht, er müsse sich jeden Satz abringen. Der unter den sprachlichen Gewalttaten und gedankenlosem Nachplappern so leidet, dass er dazu Bücher wie "Dummdeutsch" oder eine Sammlung der inflationären Komposita des Begriffes Kultur ("Alle 756 Kulturen") mit Blüten wie der Anlasskultur, der Hasskultur oder der Wegsehenskultur verfasst hat. "Ich bekomme ständig neue zugeschickt. Inzwischen müsste ich bei 1000 sein", sagt er. Lehrer und Journalisten hätten sich davon belehren lassen, bei Politikern habe er jedoch jede Hoffnung aufgegeben, dass das "Dummdeutsch- und Correctness-Gewäsch" einmal ein Ende haben könnte.
Wohlgemerkt: Henscheid ist kein deutscher Oberlehrer und Besserwisser, sondern ein Aufklärer, der jeden Leser dazu anhält, den eigenen Kopf, wenn er einen hat, zu benutzen. Mitgeprägt haben ihn Ende der 60er-Jahre der Widerspruchsgeist und der klare Verstand bei einigen Kollegen wie Friedrich Karl Waechter, F. W. Bernstein und Robert Gernhardt in der Redaktion der satirischen Zeitschrift "Pardon". Es ist nicht unpassend, dass dieser Kreis später in Anlehnung an Adorno "Neue Frankfurter Schule" getauft wurde. Ohne diese Pionierarbeiten hätte die "Harald Schmidt Show" vermutlich anders ausgesehen.
Viel Feind, viel Ehr, könnte das Motto für Henscheids Polemiken und Essays lauten, beispielsweise in den "Sudelbüchern" nach Art von Lichtenberg. Da ist nicht selten die Rede von steindumm, talentfrei und literarischen Nichtsnutzen. Zu den Beleidigten zählen Böll und Grass.
So einer hat es als Autor schwer im Literaturbetrieb. Denn überall sitzen Leute, mit denen Henscheid sich "plausiblerweise angefeindet hat". Zum Beispiel solche, die er wohlbegründet in seinen "Erledigten Fällen" angriff. Nach seinen Lieblingsfeinden befragt, nennt Henscheid spontan Hanns Dieter Hüsch und Marcel Reich-Ranicki.
Ins Zentrum von Henscheids literarischem und kritischem Vermögen führt im gerade erschienenen Band 5 der Werkausgabe die Erzählung "10:9 für Stroh". Mit barocker Sprachgewalt beschreibt der Autor auf gut 100 Seiten die Disputation eines Doktoranden mit Namen Greif an einer deutschen Reformuniversität.
Der reale Hintergrund war die echte Disputation des brillanten Feuilletonisten Gustav Seibt, seinerzeit Literaturkritiker bei der "FAZ", in dessen Gefolge u. a. Henscheid und heutige "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher als Beobachter mitgereist waren. Auf Anregung Schirrmachers schrieb Henscheid daraufhin über die Prüfung - "Schirrmacher ahnte nicht, dass er selber als drollige, etwas schräge Figur vorkommt. Er hats mir dann später sehr übel genommen." Der Text verzerrt den wissenschaftlichen Diskurs durch maßlose Übertreibung ins Groteske und demonstriert so die Absturzgefahr bei derartigen vermeintlichen Höhenflügen.
Eine der besonderen Qualitäten des Autors Henscheid ist das Vermögen, auch eher unspektakuläre Milieus wie Wirtshäuser oder einen Teppichladen in der Provinz kunstvoll in die Literatur eingebracht zu haben. Eine Leistung, die nicht jeder Leser zu schätzen weiß: "Manche glaubten, es sei nicht schwierig, eine Szene aus ihrer Stammkneipe zu beschreiben, so wie ich es in dem Roman ,Die Vollidioten' getan habe", erzählt Henscheid.
"Niemand würde bei der Neunten von Beethoven dem Irrglauben erliegen, er könnte auch so eine Symphonie komponieren. Aber wenn es sich um flache Alltagswelt handelt, glauben viele, es zu können. Einige haben den Roman als Bierhumor gelesen."
Die Lehre daraus: "Man sollte eher ein Papst-Stück über den Investitur-Streit schreiben, über den Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Das wird verstanden und ernst genommen.