Man nehme: die Hamburger Philharmoniker, eine Dirigentin mit Mut zum Experiment, Brahms' Zweite Symphonie - und dazu Hamburg, wie es am Abend zwischen Alster und Elbe im Lichterglanz funkelt. Wie klingt das, wenn ein kalter Märzwind durch die Straßen weht und Feuerwehrsirenen unerwartete Kontrapunkte setzen? Impressionen von dem Konzert, das die Philharmoniker sogar ins Guinnessbuch der Rekorde bringt.

Auftakt: Dirigentin Simone Young über den Lichtern der Stadt Kultursenatorin Karin von Welck (Kopftuch, dicker Mantel) gratuliert kurz vor dem ersten Ton Simone Young (schwarzer Hosenanzug, dünnes rotes Top, High Heels) noch schnell zum Geburtstag. Dann steigt die Dirigentin auf die obere Aussichtsplattform des Michel-Turms ins Kameralicht. Und gibt Punkt 18.30 Uhr - 85 Meter über den Lichtern der Stadt und ihren Musikern irgendwo da unten - den ersten Einsatz zur zweiten Symphonie von Johannes Brahms. Eisiger Wind lässt Haare und Jacke flattern. Im Gesicht höchste Konzentration, auf der unteren Plattform ihr Assistent Alex Soddy mit Mantel, Decke und Teekanne. Man hört Autos hupen, Feuerwehrsirenen platzen in besonders zarte Takte. Nach 19 Minuten ist Werbepause auf Hamburg 1. Der Sender überträgt live. Simone Young wärmt sich kurz auf. Nachher sagt sie: "Die Wartesekunden vor jedem Satzbeginn waren die schlimmsten, beim Dirigieren spürt man die Kälte nicht mehr." Die Chefin gibt ihre Einsätze nur für eine Kamera. "Komisches Gefühl" - aber sie weiß: Da draußen sitzen ihre Musiker und reagieren auf die kleinste Nuance ihrer Bewegungen. Auf dem Turm gehen erste Handy-Meldungen ein: begeisterte Zuhörer auf der Reeperbahn, interessierte Jugendliche in der Jugendherberge - der PR-Coup ist geglückt. Young dirigiert den letzten Satz in den Sprühregen, ihr Atem dampft im Scheinwerferlicht. 19.23 Uhr: Schlussakkord, Applaus, Blumen, ein heißer Tee. Die "Tagesthemen" warten aufs Interview. Und beim Aufwärmen hat Simone Young schon den Gedanken: Vielleicht kann man das im nächsten Jahr noch mal ...

Erster Satz: Ein eiskaltes Horn Das Horn friert. Aber das mit Blick auf die Binnenalster, in der sich der erleuchtete Jungfernstieg spiegelt. Zwar hat der Nieselregen aufgehört, und knapp über null ist es auch, aber es zieht. Wo sich sonst Jogger und Ausflugsdampfer anschicken unter der Lombardsbrücke hindurchzutauchen, sitzt Hans Rastetter und wartet darauf, dass es losgeht.

In Rastetters Rücken bewachen drei Herren vom Technischen Hilfswerk einen zimmerhohen Scheinwerfer; ein paar Zuschauer lehnen am Geländer. Vor ihm auf der Mauer steht in Brusthöhe ein kleiner Fernseher, der ihm als Monitor dienen soll. Der Schüler Tobias Malota dreht noch einmal am Camcorder, mit dem er Rastetter filmen wird.

Noch drei Minuten bis zum Einsatz. Michael Schmidt, Chefredakteur von Hamburg 1, erklärt vorweg den Ablauf: Es werde eine Aufnahme mitlaufen, die die Symphoniker von dem Stück gemacht hätten - dass es hier um die Philharmoniker geht, ist ihm offenbar durchgerutscht. Schlag halb sieben gibt Simone Young den Einsatz, aber statt Musik hört man weiter die Lastwagen über die Brücke donnern. Wer die Ohren spitzt, ahnt zwar das Hornthema. Das kommt aber aus dem Lautsprecher, denn nur dort hört man den ersten Hornisten. Hans Rastetter spielt drittes Horn. Und das hat erst mal Pause.

So spielzeugklein sieht Simone Young auf dem Bildschirm aus, dass man sich zwingen muss, ihre fließenden Bewegungen nicht einfach nur anzuschauen, sondern als verbindliche Anweisungen zu verstehen. Rastetter spielt denn auch manchmal voraus.

Wenige Töne sind es nur, die er zu spielen hat, und die fallen bei der Kälte unweigerlich tiefer aus, als das Orchester auf der Aufnahme spielt. "Ich glaub, das ist eine langweilige Stimme", sagt eine Zuschauerin zu ihrem Mann in das Rufen einer Diesellok hinein. Zwei blonde Damen mit cremefarbenen Stolen sind schon nach den ersten Takten gegangen. Die meisten anderen aber harren aus und rücken unwillkürlich zusammen; Nasen färben sich rosa. Robert Bartsch aus Hamm, 23 Jahre alter angehender Krankenpfleger, ist spontan gekommen. "Ich hatte im Internet von der Aktion gelesen", sagt er. "In der Laeiszhalle bin ich noch nie gewesen. Aber jetzt könnte ich mir vorstellen, da mal hinzugehen."

Zweiter Satz: Das Cello bleibt solo Konzertmeister Anton Barachovsky hätte mit seiner Geige kurz vor "Anpfiff" von der Japan-Tournee des Hamburg Balletts zurückkommen und die oben abgedruckte Stimme spielen sollen - aber er landete zu spät. So saß Solo-Cellist Sebastian Gaede allein im Millerntor-Stadion - wo normalerweise "You'll never walk alone" aus Tausenden Kehlen dröhnt. Gaede fühlte sich trotzdem pudelwohl, schließlich ist er Dauerkarteninhaber bei den Kiez-Kickern und hatte sich den Spielort selber gewünscht. Ist ja auch mal schön, so ein eigenes Podest mit samtbezogenem Stuhl auf der Tribüne! Bevor es ernst wird, probiert der Cellist den Anfang ein paar Mal. Dann kommt das Startsignal von der Chefin drüben auf dem Michel-Turm aus dem Monitor - und es klingt erstaunlich gut! Zwischen den beiden Wänden herrscht eine anständige Akustik; auch der Geräuschpegel der Stadt ist da oben kaum zu hören. Das wunderbar kantable Seitenthema im Cello vor dem satten Grün des Rasens: eine ganz eigentümliche Idylle, die nur gelegentlich von einer Polizeisirene unterbrochen wird. Wirklich schade, dass gerade dieser Konzertort nicht fürs Publikum zugänglich sein konnte - der Ordner muss einige enttäuschte Zuhörer abweisen. Für Gaede war das Ganze trotzdem ein schönes Erlebnis, wie er nachher sagt. Und so fährt Brahms am Millerntor auch ohne erste Geige einen ungefährdeten Heimsieg ein.

Dritter Satz: Erst eine warme Suppe, dann die Flöte Flöte Im Koch Kontor im Karoviertel ist keine Zugluft zu befürchten. Stattdessen genießen die Flötisten Björn Westlund und Jocelyne Fillion-Kelch in dem Kochbuchladen eine halbe Stunde vorher noch eine schöne warme Suppe. "Es ist schon eine verrückte Idee", sagt Westlund. "Aber ich finde es reizvoll, außerhalb des Konzertsaales zu spielen." Seine Kollegin hatte ihren Parka schon vorsorglich bereitgelegt, und als sie ihren Spielort erfuhr, wieder eingepackt. "Hier sind wir total gut bewirtet. Und es ist auch besser für die Instrumente", sagt sie erleichtert.

Die Musiker nehmen ihre Plätze zwischen den Büchern vor dem Bildschirm ein. Das Konzert beginnt. Der Laden ist mit rund 50 Zuhörern prall gefüllt. Und von Satz zu Satz tröpfeln immer neue nach. Die Kaffeemaschine pfeift im Gastraum. Ein Kind schreit. Die Musiker lassen sich in ihrer Konzentration nicht irritieren. Bis auf wenige Takte Pause sind sie ständig beschäftigt. Und tatsächlich bis auf Sekundenbruchteile synchron.

In die Konzentration hinein bricht jäh - die Werbepause nach dem ersten Satz. "Das ist wie Hausmusik, bei der man in lustiger Runde zusammensitzt", sagt Wolfgang Petersen (56) aus Billstedt. Colette Schiwietz (44) aus der Neustadt ist total begeistert: "Es ist toll, so nah dran zu sein." Die Zuhörer schlürfen Wein und reden. Die Flötisten putzen ihre Instrumente.

Da durchzuckt ein "Psssssst" den Raum. Der zweite und dritte Satz folgen. Inzwischen ist jeder Zentimeter des Ladenbodens belegt. Beim vierten Satz eine Schrecksekunde. Der Konzertmitschnitt setzt mehrfach aus. Der Techniker zerrt an der Antenne. Westlund und Fillion-Kelch spielen seelenruhig weiter. Hinterher minutenlanger Beifall, strahlende Gesichter bei den Musikern. "Die Leute haben jetzt ein Bild davon, wie es ist, neben dem Orchester zu sitzen", sagt Westlund, und Fillion-Kelch fügt hinzu: "Es war kein bisschen heikel. Die Geräusche der Stadt gehören einfach dazu."

Vierter Satz: Die Trompeten sind spät zu hören Warm eingepackt in dicken Winterjacken stehen Solo-Trompeter Mathias Müller und sein Kollege Mario Schlumpberger an der U-Bahn-Station Schlump. Anbehalten dürfen sie die Jacken nicht, Frack ist schließlich Dienstkleidung. "Und wir frieren jetzt schon", bekennt Schlumpberger.

Dafür gibt es noch, bevor es richtig losgeht, was Wärmendes fürs Herz. Philharmoniker-Fan Gerti Wilhelmi (66) aus Hamburg bestürmt die beiden mit Autogrammwünschen und versorgt sie mit Schokolade und lieben Komplimenten. Dass die zwei Trompeten am Schlump für sich genommen so richtig publikumswirksam sind, glaubt die treue Hörerin zwar nicht. Gerti Wilhelmi wird trotzdem bis zum Schluss bleiben.

Pünktlich um 18.30 Uhr haben sich jedenfalls rund 50 weitere Schaulustige und Journalisten unter dem Bahnhofsdach eingefunden und machen erste Erfahrungen mit einer tückischen Besonderheit von Brahms' Zweiter: Viel zu tun haben die Trompeten hier in den ersten drei Sätzen nicht. Ein kleines Bömtätätä hier, ein wenig Töterötö dort.

Dialoge wie der folgende machen die Runde: "Haben Sie schon was gehört?" "Nö, ich bin auch erst seit fünf Minuten hier." "Ich geh noch mal nach Planten un Blomen, da sollen die Geigen sein." Gute Laune haben die meisten trotzdem. Allen voran Mathias Müller, der das ganze Event mit einem schelmischen Lächeln absolviert, während der wippende Fuß verrät, dass man ohne die Kollegen doppelt aufmerksam zählen muss.

Fragt man unter den Umstehenden ein wenig genauer nach, findet sich das ganze Spektrum von Indifferenz über Begeisterung bis zur Kulturkritik. Serkan und Ali (beide 18) hören zwar sonst eher andere Musik, sehen die Sache aber cool: "Ich hab da keine Probleme mit. Mal was anderes."

Enthusiastischer ist die klassisch vorbelastete Jane Skoweronnek (36) aus Hamburg: "Eine schöne Idee. Gerade um die, die nicht klassikerfahren sind, auf solche Musik aufmerksam zu machen. Viele meiner Freunde würden nicht ohne Weiteres in einen Konzertsaal gehen."

Unter akustischen Gesichtspunkten wäre das aber wohl vorteilhafter. "Super, aber zu leise", kommentiert ein Passant, "und ein Plakat fehlt, weiß so doch keiner, worum's geht." Offenbar hat sich das Event doch noch nicht in der ganzen Stadt herumgesprochen. Eher philosophisch nimmt es die 28-jährige Musikerin M.O.M.I aus Stuttgart. "Lustig. Mich erinnert das Ganze stark an eine Performance. Irgendwie fluxusmäßig. Die sind da total auf ihren Monitor fixiert, und wir kriegen kaum was mit. Ist doch absurd." M.O.M.I. verabschiedet sich denn auch ganz schnell. Aber die meisten bleiben und applaudieren von Herzen, als nach 45 Minuten alles vorbei ist. Eine durchgefrorene, aber trotzdem begeisterte Dame mit Wollmütze und Skijacke reißt gar die Arme in die Luft: "War das schön." Ob es den Musikern denn Spaß gemacht hat? Mathias Müller antwortet da ganz als Profi. " Es war manchmal anstrengend wegen der Intonation, weil es wirklich kalt ist. Aber klar, sicher hat es Spaß gemacht."


Berichte und Vorgeschichte zum Event unter www.abendblatt.de/kultur