Fünf bis sechs Millionen Menschen beteiligen sich schon weltweit an dieser persönlichen Nachrichtenagentur.

Hamburg. Twitter - das klingt ganz niedlich. Fragt man im Bekanntenkreis, was das bedeutet, erntet man meist Kopfschütteln oder Erklärungsversuche von der Art: "Das hat doch irgendwie mit kurzen Nachrichten im Internet zu tun." Gerade haben wir uns - jenseits von Tageszeitung und "Tagesschau" - an Online-Nachrichten in immer kürzeren Abständen, permanenten E-Mail-Beschuss im Büro, ständige SMS-Belagerung auf dem Handy sowie Endlos-Debatten in Weblogs gewöhnt, rauscht der nächste Informations-Tsunami heran: Twitter - noch schneller, noch kürzer, noch wichtiger?

Hier geht's zu den Hamburger Abendblatt Twitter-Seiten.

"Da ist ein Flugzeug im Hudson. Ich bin auf der Fähre, um die Leute einzusammeln. Verrückt." Mit diesen Worten und einem Foto, das er mit seinem iPhone-Handy vom Flugzeugabsturz in New York geschossen hatte und dann in seinen Twitter-Nachrichten speicherte, wurde Janis Krums weltberühmt. Er war am 15. Januar 2009 der erste Augenzeuge des "Wunders vom Hudson". Er schickte die Sensation um die Welt, und spätestens da fingen die professionellen Nachrichtenjäger an, sich Sorgen zu machen: Werden die globalen Twitterer, von denen es momentan fünf bis sechs Millionen gibt und deren Gemeinde sich täglich um 10 000 Mitglieder vergrößern soll, bei Terroranschlägen und Naturkatastrophen über kurz oder lang die Nachrichtenführerschaft übernehmen? Was bedeutet dieser neue Turbo-Infokanal für die herkömmlichen Medien?

Diese Fragen standen sicher nicht im Vordergrund, als Jack Dorsey, Biz Stone und Evan Williams den Mikro-Blogging-Dienst im März 2006 in San Francisco starteten. Ihnen ging es um ein soziales Netzwerk, das intern von den Mitarbeitern der Podcasting-Firma Odeo genutzt werden konnte. Und das dann explosionsartig so populär wurde, dass es heute zwar noch kein Geld verdient, dem US-Netzwerk Facebook aber 500 Millionen Dollar wert sein soll.

Vordergründig scheint das wahnsinnig viel Geld für eine Art persönliche Nachrichtenagentur, bei der Benutzer Texte mit maximal 140 Zeichen senden und von anderen empfangen können. Die Nachrichten werden "Tweets" (englisch: to tweet, deutsch: zwitschern) genannt. Und, jetzt kommt's: Das soziale Netzwerk beruht darauf, dass man anderen folgt, also ihre Nachrichten - bisher noch kostenlos - abruft. Umgekehrt werden Benutzer, die den eigenen Mitteilungen folgen, zu "Followern". Gänzlich Unbekannte, arme Einsame, ehrlich Interessierte, begeisterte Fans oder schlicht gute Freunde, die wissen möchten, was man gerade - reduziert auf 140 Zeichen - tut, denkt oder fühlt. Ob mit der Zahl der "Follower" auch die eigene Bedeutung wächst? Auf jeden Fall hat US-Präsident Barack Obama 248 505 Twitter-Anhänger, während sich für das Gezwitscher von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil nur 1875 Leser interessieren.

Allzu kompliziert ist die Twitterei nicht. Wenn man bei "Google" als Suchbegriff "Twitter" eingibt, kommt man schnell auf das deutsche Twitter-Handbuch. Und gelangt mit wenigen Eingaben auf die Startseite, um dann zum Beispiel Britney Spears (78 979 Followers) zu folgen, die einen dankenswerterweise darüber informiert, dass sie einen netten Abend mit einer großartigen Massage hinter sich hat, oder Al Gore (67 230), der einem soeben mitteilt, dass die Antarktis immer wärmer wird. Man kann im Brooklyn Museum und in der Downing Street reinschauen, bei immer mehr Unternehmen, Zeitungen und Politikern. Man ist globaler Zeitzeuge von auf 140 Zeichen reduzierten Belanglosigkeiten von Menschen mit einem enormen Mitteilungsbedürfnis. "Ich kaufe noch Tomaten", "ich mach jetzt Feierabend", "wann hört es auf zu regnen?" - das Leben der meisten zwischen Schenefeld und Shanghai ist halt eine Aneinanderreihung normaler Tätigkeiten, die nicht zum Spektakel reichen. Und das persönliche Twittern erinnert ein wenig an eine Geburtstagsgesellschaft, auf der sich die Familienmitglieder beim Filmen gegenseitig fotografieren und sich die digitalen Bilder dann freudig gemeinsam anschauen.

Kein Wunder, dass bei der hitzigen Debatte um den momentanen Twitter-Hype extreme Positionen aufeinanderprallen. "Banal und sinnlos", schreibt Ju über den "Info-Quickie" ("Stern"). "Es scheint mir ein Zeitdieb zu sein", meint Andre, der zudem vor Twitter-Nachrichten warnt, da sie "von keiner Redaktion auf Wahrheitsgehalt" geprüft werden. Und Chris meint: "Twitter ist der Höhepunkt des Seelenstriptease - welcher Twitterer will denn noch ernsthaft um die Privatsphäre kämpfen oder für den Datenschutz eintreten, wenn er selber weitaus mehr in die Welt bläst, als Schäuble, Bush & Co. jemals wissen wollen?" Wie sorglos selbst Geheimnisträger beim Twittern sind, zeigt ein aktuelles Beispiel: US-Sicherheitsexperte Pete Hoekstra verplapperte eine geheime Reise in den Irak per Tweet: "Just landed in Baghdad."

Auf der anderen Seite nutzen Aktivisten das Netzwerk, um in Kürze viele Menschen zusammenzutrommeln. Die Feuerwehr in Los Angeles koordinierte die Löschtrupps während der Waldbrände per Twitter. Und Redakteure nutzen die Kurzmitteilungsplattform weniger für Recherche, sondern um Trends zu erkennen und Themen zu finden.

Im Grunde löst twitter.com die gleichen gesellschaftlichen Reflexe aus wie jede mediale Revolution zuvor. Die einzigartige Möglichkeit, per Handy jederzeit mit jedermann an jedem Ort auf der Welt seine Gedanken austauschen zu können, ist je nach Standpunkt Fluch oder Segen. Manch einer fragt sich, was mit einer Gesellschaft passiert, die ihre Kommunikation auf 140 Zeichen beschränkt und in der Worte wie Stillstand, Muße und Geheimnis nach und nach aus dem Sprachschatz verschwinden. "In der Informationsgesellschaft", schrieb US-Schriftsteller Michael Crichton schon 1990 in "Jurassic Park", "denkt keiner mehr nach. Wir erwarten, dass wir Papier aus unserem Leben verbannen, stattdessen haben wir die Gedanken verbannt."

Propheten des Untergangs nutzen Twitter, um darauf hinzuweisen, dass die Info-Flut die Menschen zermürbt - und auch die Produktivität verringert. So hat die New Yorker Unternehmensberatung Basex errechnet, dass Mitarbeiter alle elf Minuten durch neue Informationen von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt werden und die US-Wirtschaft dadurch jährlich 650 Milliarden Dollar verliert.

Dagegen stehen die Vertreter der Moderne, die nicht von Störung sprechen, sondern von dem Zugewinn der Freiheit, sich in jedem Moment für die Teilnahme an diesem weltweiten Chatroom zu entscheiden.

Oder auch nicht.