Gossip mit Sängerin Beth Ditto veröffentlichen ihr neues Album “A Joyful Noise“. Die Band ist in Deutschland beliebter als in den USA.
Hamburg. Die Amerikanerin Beth Ditto ist der unwahrscheinlichste weibliche Popstar der Welt. Sagte man, sie sei "der fetteste Popstar der Welt", dann klänge das unangebracht, fies und politisch überhaupt nicht korrekt, nicht wahr?
Und furchtbar plump, das auch natürlich. Allerdings ist es die 31 Jahre alte Musikerin selbst, die sich nicht nur als wohlbeleibte, üppige Erscheinung inszeniert, sondern sich auch als "fett" bezeichnet, ohne dabei im Mindesten einen unglücklichen Eindruck zu machen. Im Gegenteil gibt sie sich als Rächerin aller unter Magerwahn leidenden Frauen. Heute erscheint das neue Album ihrer Band Gossip.
Und angesichts von "A Joyful Noise", das auf das kommerziell äußerst erfolgreiche "Music for Men" folgt, fällt einem wieder auf, wie hinreißend diese Band und ihre Beliebtheit eigentlich sind. Denn die neuen Songs zünden, wenn man so will, die nächste Stufe: War der Sound Gossips zuletzt schon sehr tanzbar, so brummt er jetzt geradezu vor Eingängigkeit, während die Nebelmaschine ihr Wabern auf den Dancefloor schickt. Disco, Disco!
+++ Gossip tritt mit neuem Album in die Fußstapfen Abbas +++
Im Jahr 2012 machen Beth Ditto, Hannah Blilie und Brace Paine lupenreinen Elektro- und Synthesizerpop, der schwer an die 80er-Jahre erinnert. In Bezug auf das äußere Erscheinungsbild ist eine größere Differenz zwischen gängigen Schönheitsidealen und hedonistischem Nightclub-Sex-Appeal auf der einen und der prallen Körperlichkeit der Stil-Ikone Ditto kaum möglich. Die dicke Dame ist ein Tanzderwisch, der bei 1,55 Metern knapp 100 Kilo auf die Waage bringt. Ihr barockes Auftreten ist auf der Bühne eine Sensation. Ohne die famosen Popsongs, denen auch die dem Funk entlehnten Gitarrenakkorde Brace Paines ("Horns") derzeit ihre Unverwechselbarkeit geben, wären Beth Ditto und Gossip zwar nur die Hälfte wert. Dennoch ist die Figur des Popstars, wie Ditto sie verkörpert, schon eine Qualität an sich.
Hungerhaken und Modezar Karl Lagerfeld bezeichnete Ditto vor einigen Jahren als seine Muse, und Heranwachsende himmeln sie an: gleichviel, ob sie sich den Vorbildern in den Magazinen und Fernsehshows gerne aussetzen oder ihnen hilflos gegenüberstehen.
Ditto ist wie ein Störgeräusch im allgemeinen Gerede über den Pop und seine Gesetze. Sie unterläuft hemmungslos die popkulturellen Codes.
Denn ein Popstar muss ja zu allererst ein Zeichen aussenden: Er muss sexy und begehrenswert sein. Dass Ditto Frauen liebt und am Anfang ihrer Karriere wehrhafte Rockmusik machte (innerhalb der Riot-Grrrl-Bewegung), lässt sie zusätzlich interessant erscheinen. Die Schlagzeugerin Hannah Blilie ist ebenfalls lesbisch.
Mit dem regierungskritischen Song "Standing In The Way of Control" traten die Musiker für die Rechte von Homosexuellen ein. In feministische Zusammenhänge gehören sie sowieso, Ditto äußert sich regelmäßig, wenn sie irgendwo Sexismus wittert. Im Video zur neuen Single "Perfect World" ist Ditto als Nonne zu sehen. Das zitiert zum einen den Madonna-Clip "Like A Prayer", zum anderen vermischt es die Glaubensbekenntnisse. Wer der Kirche der Popmusik angehört, der hat nichts gegen die Sünde, dem sind weltliche Genüsse nicht fremd.
Mit Gospelklängen und Preisungen des Herrgotts würde man Gossip jedenfalls nicht in Verbindung bringen. Zu Hause in den Vereinigten Staaten ist Gossip übrigens notorisch erfolglos, während "Heavy Cross" seit 2008 der meistgespielte Song im deutschen Radio ist. Auf "A Joyful Noise" sind Gassenhauer versammelt, und die stilistische Einfallslosigkeit der begnadeten Songwriter ist im Hinblick auf die Hitdichte nur von Vorteil. Es gibt derzeit niemanden, der den formatierten Popsong so gut hinbekommt wie Gossip.
Gossip: "A Joyful Noise" (Sony)