Der Henri-Nannen-Preis geht an einen “Spiegel“-Redakteur, der mit einer Reportage gewann, die zum Teil keine ist. Ein handfester Skandal.
Hamburg. Als "Spiegel"-Redakteur René Pfister am Freitagabend auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses kletterte, war alles in bester Ordnung. Ein Großteil der Preise war bereits vergeben, Tiefes war gefühlt, Lustiges belacht, Lächerliches bestirnrunzelt worden. Die Journaille feierte sich, wie von Moderatorin Katrin Bauerfeind empfohlen, klopfte sich bei jedem ausgezeichneten Beweis dafür, dass Qualitätsjournalismus alle Medienkrisen überleben wird, auf die eigene Schulter - und auch das Büfett befand sich schon in Aufstellung.
+++ Das sind die Preisträger +++
Pfister selbst hatte eigentlich auch alles richtig gemacht: Er hatte - dem Dresscode zuliebe - doch noch aus der Jeans in den Smoking gefunden, die Haare frisiert, ein sympathisches Lächeln aufgesetzt, sodass sich die 1200 Gäste des Henri-Nannen-Preises mit ihm freuen konnten, wenn er den "Henri" für die beste Reportage in Empfang nehmen würde. Nicht zuletzt hatte er im August vergangenen Jahres offenbar auch die richtige Reportage geschrieben. "Am Stellpult", eine Nahaufnahme des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Sie beschreibt zu Beginn den Keller von Seehofers Ferienhaus in Schamhaupten, in dem dieser eine Märklin-Eisenbahn aufgebaut habe, "ein Modell von Seehofers Leben", das seit Jahren erweitert werde, in dem auch Angela Merkel Platz finde - als Plastikfigur auf einer Diesellok. Ein Keller, der die Welt bedeutet, in dem Horst Seehofer sich eine "Welt nach seinem Willen" geformt habe: "Er steht dort am Stellpult, und die Figuren in den Zügen setzen sich in Bewegung, wenn er den Befehl dazu erteilt." So formulierte Pfister und wurde jetzt von der Jury ausgezeichnet - es heißt, die Entscheidung sei knapp zugunsten des "Spiegel"-Redakteurs ausgegangen, weil er diese beeindruckende Nähe zur Person gefunden habe, schließlich sei er ja sogar in diesem Keller gewesen.
Ausgezeichnet mit dem vielleicht wichtigsten Preis des Abends, dem Preis, der Egon-Erwin-Kisch-Preis hieß und den "Stern"-Gründer Henri Nannen 1977 ins Leben gerufen hatte. Um journalistische Qualität zu fördern. "Geo"-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede überreichte die Bronze-Statue. Der Autor habe "Persönlichkeitsnischen" und "Charakterhöhlen" eines Mannes im Keller ans Licht gebracht, sagte Gaede. Herzlichen Glückwunsch!
Einziges Problem an der Sache: René Pfister hat nie im Leben einen Schritt in diesen Keller getan. Er hat die Modelleisenbahn nie gesehen. Hat Seehofer nicht schalten und auch nicht walten sehen in diesem Hobbykeller. Weiß er sicher, ob Frau Merkels Konterfei wirklich auf einer Plastikfigur Diesellok fährt? Unwillkürlich fragt man sich, ob er überhaupt sicher weiß, dass es diese Eisenbahn mit ihren Abstellgleisen und Talfahrten gibt.
Die Reportage, die beste Reportage des Jahres 2010, ist eine Vortäuschung falscher Tatsachen. Sie ist nicht echt. Weil der Autor nicht das aufgeschrieben hat, was er gesehen hat. Eben weil er nichts gesehen hat.
"Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit", schrieb Egon Erwin Kisch vor 86 Jahren im Vorwort zu seinem Buch "Der rasende Reporter". Die einfache Wahrheit am Freitag gegen 22 Uhr war eine Ohrfeige. Eine schallende Ohrfeige für die anwesenden Journalisten, für die Jury, die sich durch 791 Texte gelesen und die gestritten, die fein abgewogen hatte; eine Ohrfeige für den Gastgeber, G+J-Vorstandschef Bernd Buchholz, der "Recherche, Nachfrage und Selektion" als Werkzeuge des Qualitätsjournalismus benannte, und eine für den Ritter des Qualitätsjournalismus, Wolf Schneider ("Qualität kommt von Qual"), der den "Henri" für sein Lebenswerk erhielt.
Die Wahrheit lautet: Pfisters Reportage ist in wichtigen Teilen des Textes keine Reportage, und er hat diesen Umstand nicht kenntlich gemacht. Sie ist - was diese Teile angeht - lediglich das Ergebnis von Gesprächen mit CSU-Chef Seehofer, wie Pfister auf der Bühne sagte. Der nämlich habe ihm, Pfister, auf einer Reise nach China von seiner Eisenbahn und allen anderen Details erzählt.
Noch einmal: Nicht nur sieht der Autor der besten Reportage des Jahres 2010 sich den Keller, der Fundament seiner Geschichte wird, nicht an. Er übernimmt einfach Beschreibungen eines Politikers. Noch dazu eines Mannes, den er selbst in seinem Text mit folgenden Worten beschreibt: "Seehofer reicht es, wenn er Menschen steuern kann wie seine Eisenbahn."
Und wenn es noch schlimmer geht, dann kommt es so: Niemand bemerkt das. Jeder, der den Text liest, geht davon aus, dass alles mit eigenen Augen gesehen wurde. Die Kollegen beim "Spiegel" genauso wie die "Spiegel"-Leser und letztlich die Jury des Henri-Nannen-Preises. Offenbar hat niemand die Frage gestellt: Was muss man tun, um in diesen Keller zu kommen? Bis die - bis dahin als gar nicht so investigativ eingeschätzte und von manchem Gast belächelte - Katrin Bauerfeind an diesem Freitagabend genau das wissen möchte.
Dass René Pfister auf der Bühne coram publico so offen antwortet, preisgibt, was nicht den Preis wert ist, wirkt, als sei ihm überhaupt nicht bewusst, was er eigentlich getan hat. Dieser Eindruck verfestigt sich, als er dieser Zeitung gestern auf Anfrage Folgendes sagte: "Die Recherche für den Einstieg mit Seehofers Eisenbahn basiert auf zahlreichen Gesprächen mit Seehofer selbst und engen Mitarbeitern. Ich beobachte ihn seit 2004 für den ,Spiegel', und in all den Jahren hat er immer wieder von der Bahn in seinem Ferienhaus berichtet. Vor Erscheinen des Artikels habe ich dann noch mit einem ,Spiegel'-Kollegen geredet, der sich dort von ihm die Eisenbahn hat zeigen lassen. Der Text erweckt meiner Meinung nach nicht den Eindruck, als sei ich zu einem konkreten Zeitpunkt selbst mit Seehofer in dem Keller gewesen. Es ist die Schilderung dessen, was ich in langer Recherche über Seehofer und seine Modelleisenbahn zusammengetragen habe."
Juror Gaede hat wie alle anderen Jury-Mitglieder nichts gewusst: "Ich war durchaus überrascht davon, dass René Pfister den Keller des Herrn Seehofer nicht persönlich betreten hat. Doch muss man sich fragen, ob es nicht ein viel entscheidenderes Kriterium für die Bewertung des Textes gibt: Hatte René Pfister authentische Quellen (nämlich die Quelle Seehofer selber), hat er die Wahrheit geschrieben, hat er plausible und legitime Schlüsse gezogen? Davon gehe ich nach wie vor aus. Und dass der Autor selber keine Betrugsabsicht hatte, offenbart meiner Meinung nach die offenherzige Art, in der er die Genese seines Textes ausgerechnet auf der Bühne angesprochen hat."
Mehrere Juroren bestehen auf einer Aussprache, die nach Abendblatt-Informationen heute in einer Telefonkonferenz beginnen soll.
Pfisters Text ist ein Betrug an der Wahrheit, ist Verrat dessen, woran Journalisten mindestens zu glauben vorgeben. Er ignoriert alles, was an diesem Abend gefeiert wird, und erhebt sich in einer Weise über die Recherchen und Mühen der Kollegen, dass man sich abwenden möchte. Anders als es bei einem Guttenberg gewesen wäre - dem es geholfen hätte, wäre deutlich geworden, dass er die Wissenschaft nicht absichtlich getäuscht hätte -, ist der fehlende Vorsatz hier nicht schuldmindernd. Nicht zu wissen bedeutet in diesem Falle, sein Handwerk nicht zu verstehen. Das ist die nächste Ohrfeige. Für den Qualitätsjournalismus, der doch den Unterschied machen soll zu Facebook und Twitter. Um den allein es an diesem Abend in Hamburg und um den es den meisten Gästen lebenslang geht.
Im Saal weiß man jetzt grad nicht, ob noch das Lächeln der Gäste leuchtet oder doch die Displays der nicht ausgeschalteten Mobiltelefone, auf denen eilig SMS geschrieben werden: Hab ich richtig gehört? Hat er wirklich gerade gesagt, er war gar nicht in diesem Keller gewesen?
Im Foyer und am Büfett gibt es eine halbe Stunde später kein anderes Thema, und am Wochenende brodelt es hinter den Kulissen der Medienwelt. Manche meinen, man müsse René Pfister den Preis gleich wieder entziehen. Auch in der Jury gibt es diese Stimmung. Es rauscht nun im Blätterwald. Man fühlt sich getäuscht. Und was dem "Spiegel" als Doppelsieg (das Autorenteam um Ullrich Fichtner erhielt für "Bundeswehr. Ein deutsches Verbrechen" den "Henri" für die beste Dokumentation) zum Triumph hätte gereichen können, wird jetzt zur Schande.
Als Christine Kröger, Reporterin des "Weser-Kuriers", am Freitagabend ihren Preis für die beste investigative Leistung aus den Händen von "taz"-Chefredakteurin Ines Pohl in Empfang nahm, war sie sichtlich vollkommen überrascht davon, dass die Wahl der Jury auf sie gefallen war. Beinahe verzagt wirkte sie, bemüht, die Laudatorin und nicht die journalistischen Eminenzen im Saal anzusehen. Als fühle sie sich zu klein für diese Pracht. Ob sie sich denn freue über den "Henri"? "Ich kann das noch gar nicht glauben", sagt sie dann, "ich bin doch nicht vom ,Spiegel' oder vom ,Stern'." Wenige Viertelstunden später hatte dieser Satz plötzlich einen ganz, ganz neuen Nachklang.