Sinnsuch-Spiele wie die TV-Serie “Lost“ setzen fort, was vor 20 Jahren mit David Lynchs “Twin Peaks“ begann.
Hamburg. Was haben der verdammt gute Kirschkuchen aus "Twin Peaks", die Schicksalsgemeinschaft aus Drogenfahndern und -dealern in Baltimore aus "The Wire" und ein Eisbär auf einer tropischen Insel von "Lost" miteinander zu tun? Eine Menge. Aber nur, wenn man in größeren Zusammenhängen denken kann. Wenn man bereit ist, sich in wunderbar auserzählte Sackgassen locken zu lassen oder sich vom Wunsch nach leicht verdaulicher Entweder-oder-Logik zu verabschieden.
Jede Zeit hatte ihre "Buddenbrooks". Der zeitraubende und faszinierend anstrengende Gesellschaftsroman, an dem das jeweilige Bürgertum sich verzückt reiben und durch den es sich moralisch wie ästhetisch bilden lassen konnte, erscheint im 21. Jahrhundert nicht mehr auf Papier. Noch wird er in Ermangelung eines besseren Begriffs "TV-Serie" genannt, obwohl das dramatisch untertrieben ist.
Er manifestiert sich als langer, unberechenbarer Erzählstrom in DVD-Boxen oder als mal mehr, mal weniger legaler Download auf Fernsehbildschirmen oder Computermonitoren. Weiterempfohlen wird er wie guter Wein, weil den Serien-Gourmets das Leben zu kurz ist für die gebührenfinanzierte Plörre, die ihnen in Familienpackungen vom Fließband vorgesetzt wird. Für viele Bewunderer dieser fantastischen Export-Vielfalt ist der Ex-Polizeireporter David Simon nicht weniger als der Balzac unserer Zeit. Simon ist ein "Creator". Als gottgleichgesteller Schöpfer schrieb er mit dem 60-Stunden-Epos "The Wire" ein Panorama der zutiefst verstörten amerikanischen Gegenwart für den Bezahl-TV-Sender HBO über die Slums von Baltimore. Simons wird gerade für "Treme" gefeiert, für Geschichten aus dem wirbelsturmverwüsteten New Orleans. So bravourös kann Fernsehen sein. Und alles begann mit dem Mord an Laura Palmer.
Als 1990 zum ersten Mal Angelo Badalamentis ätherische Vorspannmusik für David Lynchs "Twin Peaks" erklang, und die Suche nach Lauras Mörder den aalglatten FBI-Agenten Dale Cooper in ein Hinterwäldler-Kaff verschlug, begann für viele Amerikaner - und ein Jahr später für viele Deutsche - ein verstörend neues TV-Zeitalter. "Twin Peaks", die erste Serie, die keine konventionell von A nach B heruntererzählte Serie à la "Dallas" mehr sein sollte. Coopers Schwäche für Kaffee und den schon erwähnten Kirschkuchen war eine von unendlich vielen Marotten, mit denen Lynch sein Paralleluniversum ausstattete, das nur noch sporadisch wie die Wirklichkeit wirkte. Es gab eine Frau, die ein Holzscheit durch die Gegend trug, sonderbare Kleinwüchsige und überdrehte Teenager.
"Ich weiß nicht, warum die Leute von Kunst erwarten, dass sie Sinn macht, schließlich akzeptieren sie die Tatsache, dass das Leben keinen Sinn macht", sagte Regisseur David Lynch damals, um verwirrten Zuschauern die Angst vor dem so ganz anderen zu nehmen. Hat nicht geklappt. "Twin Peaks" wurde mit Deutungsversuchen überladen und von zu viel Hype erschlagen, aus Angst vor bröckelnden Quoten nötigte sein Auftraggeber ABC den Regisseur, vorschnell den Mörder zu verraten. Von dieser Entzauberung erholte sich Lynchs Gesamtkunstwerk nicht mehr. Das Kartenhaus fiel in sich zusammen und wurde Mythos.
In wenigen Tagen steht ein weiteres Ende einer TV-Ära bevor. Am 23. Mai, nach sechs Staffeln, endet in den USA das Sinnsuch-Spiel "Lost". In der Serie wimmelt es nur so von Logiklöchern, auch liebevoll "What the fuck?!"-Momente genannt. Was mit einer Handvoll Überlebender eines Flugzeugabsturzes begann, hat sich zu einem Mysterien-Puzzle entwickelt, das jede Antwort mit drei neuen Fragen aushebelt. Die Schöpfer der "Lost"-Welt sollen sich geschworen haben, nach dem Finale nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Warum sollten sie auch. "Lost" wird in die Zeitlosigkeit des Internets transzendieren, dort ein liebevoll gepflegtes Eigenleben führen - in Foren, in denen sich Fanatiker endlos in unbeantworteten Fragen und unwidersprochenen Theorien verlieren und an den Rand des Wahnsinns streiten können. Ist Jacob Gott, ist John Locke der Teufel? Oder ist es womöglich genau anders herum? "Die großen Geheimnisse des Lebens können nicht grundsätzlich geklärt werden", orakelte einer der Produzenten. "Lost"-Fans lieben so etwas.
Und hierzulande? Hierzulande blamieren sich die öffentlich-rechtlichen Programmverantwortlichen gerade, indem sie wieder einmal Selbstmord aus Angst vor dem Tod begehen: Die letzten zwei Folgen der von Kritikern geliebten ZDF-Krimiserie "KDD" wurden wegen schlechter Quoten ins Spätabendprogramm verbannt. Als ob das noch etwas retten würde bei so viel hausgemachter Feigheit vor dem Unkonventionellen. Dominik Grafs Russenmafia-Zehnteiler "Im Angesicht des Verbrechens" ist anspruchsvoll genug, um nach der gerade beendeten Arte-Erstausstrahlung bei der ARD im Herbst das gleiche tragische Schicksal zu erleiden.