Nizza. Der Gesamtführende der Tour de France sorgt mit seinen Leistungen für Begeisterung. Dafür hat Tadej Pogacar sein Training angepasst.
Zorn macht erfinderisch. Tadej Pogacar jedenfalls war schwer erzürnt, als er letztes Jahr im Juli im Zeitfahren mehr als andethalb Minuten auf Jonas Vingegaard verlor und sich damit schon abzeichnete, dass er zum zweiten Mal hintereinander die Tour de France verlieren würde. „In den Monaten danach haben wir uns hingesetzt, und jedes Detail noch einmal überprüft. Wir haben gemeinsam mit den Ingenieuren von Colnago sein Fahrrad schneller und leichter gemacht. In vielen Tests im Windkanal haben wir seine Sitzposition verändert, so dass die ganze Kombination aus Fahrer und Rad aerodynamisch günstiger ist und Tadej trotzdem eine optimale Leistung bringen kann. Wir haben sein Training umgestellt, mehr auf die langen Anstiege und länger dauernden Belastungen gesetzt, da wo Vingegaard in den letzten beiden Jahren einen Vorteil hatte“, erzählt Matxin Fernandez, Sportdirektor bei Pogacars Team UAE Emirates, dieser Zeitung vom langen Winter und Frühling der Veränderungen. Mit Erfolg. Am Sonntag krönte er sich zum Sieger der Tour de France 2024, gewann auch das abschließende Zeitfahren in Nizza - sein sechster Etappensieg bei der diesjährigen Ausgabe.
Zu den kleinen technischen Details, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben, gehört auch die Kurbellänge des Antriebsstranges. Im letzten Jahr fuhr der Slowene noch mit 170mm langen Kurbeln. In diesem Jahr ließ er die kürzeren, 165mm langen Kurbeln anschrauben. Dachte man früher, längere Kurbeln führen zu mehr Kraft auf dem Pedal – was physikalisch weiterhin richtig ist – so ging die Forschung inzwischen vom Primat von der Mechanik der unbelebten Teile hin zur Einbeziehung anatomischer Parameter.
Dabei stellte sich heraus, dass kürzere Kurbeln, die zu einem kleineren Bewegungsradius führen, den Winkel verkleinern, den die Beine beim Treten ausführen müssen. Das ist nicht nur angenehmer. Es sorgt auch für mehr Leistung über längere Zeiträume. Und außerdem kann die Sitzposition etwas tiefer angeordnet werden. Das kann aerodynamische Vorteile bringen. Vor allem verändert es positiv den Schwerpunkt des gesamten Mensch-Maschine-Systems. Es ist besser manövrierbar, was sich vor allem beim Finden der Ideallinie in den Abfahrten auszahlt. Der deutsche Radprofi Georg Zimmermann, der im Finale der 17. Etappe das Privileg hatte, gemeinsam mit Pogacar ein paar Kilometer zu absolvieren, meinte jedenfalls anerkennend: „Er ist nicht nur schnell bergauf, sondern auch schnell bergab.“
Auch interessant
Hitzetraining: Pogacar arbeitet auch an seiner letzten Schwäche
Und tatsächlich ist im Tadej Pogacar des Jahres 2024 kaum ein schwacher Punkt zu finden. „Er ist einfach der Beste, egal, ob es die kurzen oder langen Anstiege sind, ob Schotter unter den Pneus ist, ob es draußen warm oder kalt ist“, schwärmte Fernandez von seinem Schützling.
Tatsächlich arbeitete Pogacar auch an dieser, seiner letzten Schwäche. „Wenn es heiß wurde, hatte ich früher immer mal wieder Probleme. Ich habe aber extra Hitzetraining gemacht und komme jetzt mit höheren Körpertemperaturen besser klar“, sagte der Slowene bei dieser Tour. Um nicht zu überhitzen, trägt er auch während der Rennen einen Temperatursensor, und kann so die gefährlichen roten Zonen besser vermeiden.
All das trug dazu bei, dass er diese Tour de France so dominant bestritt. Fünf Etappen gewann er. Er stellte neue Kletterrekorde auf, auf kleinen Rampen wie San Luca in Italien, auf mythischen Anstiegen wie Galibier und Plateau de Beille. Und auch auf seltener befahrenen Pässen wie Pla d’Adet, Isola 2000 und Col de la Couillole setzte er neue Bestmarken.
Antidoping-Experte: Rekorde von Pogacar sind „monströs“
All das warf Fragen auf. Der frühere Coach und heutige Antidoping-Aktivist Antoine Vayer bezeichnete Pogacars Rekorde als „monströs“. Debatten löste aus, ob Pogacars Team UAE eine Messmethode zur Bestimmung des Blutvolumens auch zur Leistungssteigerung einsetzt. Die Messmethode funktioniert mit Kohlenmonoxid. Inhaliert man größere Mengen, stirbt man an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Kleinere Mengen regen aber den Körper zur erhöhten Produktion von roten Blutkörperchen an. Pogacar verneinte allerdings, dass die Methode zu diesen Zwecken angewendet werde. Sorgen bereitet auch, dass das Kontrollsystem von leistungssteigernden Substanzen wie dem Ausdauerpräparat AICAR Lücken aufweist und Tests für neuere Medikamente bislang noch nicht einmal zur Anwendung gekommen sind.
Pogacars Show bei dieser Tour war phänomenal - „von einem anderen Planeten“, schrieb die Sportzeitung l’Equipe. Ob sie doch noch „irdisch“ war, irdisch im Sinne der Antidopingrichtlinien, wird man erst in einigen Jahren wissen. Auf alle Fälle aber wurde das Rennen um die „marginal gains“, die Summe der kleinen Vorteile, bei dieser Tour de France auf eine neue Stufe gehoben.