Hamburg. Der linke Hamburger Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi steigt aus – und verfasst einen fulminanten Text.
Wenn sich am Bundestagswahlabend die Parteichefs von SPD, Grünen und Linken mal wieder erklären müssen, warum es nicht zu einer eigenen Mehrheit gelangt hat, sollten sie einen Text kennen: Verfasst hat ihn der Hamburger Linken-Politiker Fabio De Masi, der nach vier Jahren im Bundestag nicht wieder antritt.
Dem Hohen Haus geht damit nicht nur ein über die Parteigrenzen geschätzter Fachpolitiker verloren, der im Wirecard-Untersuchungsausschuss zu überzeugen wusste, sondern auch ein Querdenker in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes – als die Gesellschaft Menschen noch schätzte, die auch mal über den Tellerrand des Mainstreams dachten.
Wäre Politik eine Castingshow, hätte es De Masi wahrscheinlich zum Parteichef gebracht: smart, eloquent, kompetent und eine Vita, welche die oft vergessene Erfolgsgeschichte Europas lebt. Ein Großvater kämpfte als Partisane im Piemont für die Befreiung Italiens, der andere hätte ihm als deutscher Soldat gegenüberstehen können.
Politik ist keine Castingshow
Aber Politik ist eben keine Castingshow. Zwar gab es Parteifreunde, die den 40-jährigen De Masi ermunterten, für den Vorstand zu kandidieren – aber als Vertreter des Wagenknecht-Flügels verzichtete er. Nun steigt er ganz aus. Er tut dies mit einer lesenswerten Abschiedsrede, die man wahlweise als Abrechnung oder Weckruf lesen kann.
Wie man die Linke kennt, wird sie sich nicht wecken lassen. De Masi wäscht keine schmutzige Wäsche, sondern hat einen Denkanstoß verfasst, der weit über seine Partei hinausweist und das ganze linke Lager, aber auch Medien und Meinungsführer anspricht: „Ich habe den politischen Meinungsstreit – gerade mit Konservativen und Liberalen – immer als eine Bereicherung empfunden.
Elitärer Wahrheitsanspruch
Denn Widerspruch schult die eigenen Argumente“, widerspricht er selbstgerechten Twitter-Taliban, die Debatten mit Saalschlachten verwechseln, bei denen es nur noch um Triumph und Demütigung geht.
Und De Masi macht munter weiter: „Es gibt in verschiedenen politischen Spektren und vor allem in den sozialen Medien die Tendenz, Politik nur noch über Moral und Haltungen zu debattieren.“ Er hält dies für einen Rückschritt. „Werte und Moral sind das Fundament politischer Überzeugungen.
Wer jedoch meint, dass alleine die „richtige Haltung“ über „richtig oder falsch“ entscheidet, versucht in Wahrheit den Streit mit rationalen Argumenten zu verhindern.“ Eine solche Debattenkultur habe nichts mit Aufklärung zu tun, sondern sei Ausdruck eines elitären Wahrheitsanspruchs, wie ihn die Kirche im Mittelalter bediente. De Masi warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft, wovon rechte Demagogen weltweit profitieren.
Sogar Marokko hat Deutschland überholt
Und dann schlägt der 40-Jährige die Brücke zur heutigen Krise. Eigentlich wäre es die Stunde der Opposition: Die Große Koalition beweist in einer Mischung aus Überforderung und Wurstigkeit, dass Deutschland erschreckend wenig auf die Reihe bekommt. Der vermeintliche Weltmeister im Organisieren verstolpert erst die Impfstoffbeschaffung und nun das Impfen selbst. Nun hat sogar Marokko Deutschland überholt.
„Es werden die Parteien gewählt, denen man zutraut, Existenzen in der Corona-Krise zu sichern, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und zu verhindern, dass Kinder aus ärmeren Stadtteilen ihr Recht auf Bildung einbüßen“, sagt De Masi. Das klingt nicht nach Raketenwissenschaft.
Corona-Politik hat hierzulande eine soziale Schlagseite
Seltsamerweise aber konzentrieren sich linke Parteien in der Pandemie eher auf einen Wettlauf der Beschränkungen. Sie debattieren lieber über Inzidenzen statt über Integrationsrückschritt, über Komplikationen statt Kindeswohl, über Mutationen statt Mütter in Not, über Zero-Covid statt Nulleinkommen.
Die Corona-Politik hat hierzulande eine soziale Schlagseite, sie wird überwiegend in großzügigen Altbauwohnungen mit Netflixanschluss erdacht und kommentiert. „Parteien in der Tradition der Arbeiterbewegung waren immer lebensnah. Sie kannten die Lebenswirklichkeit der Menschen, die von ihrer Hände Arbeit lebten“, klagt De Masi. Die Vergangenheitsform ist richtig gewählt.
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Anstelle von Fabio De Masi wird Janine Wissler für den Linken-Vorsitz kandidieren – sie war bis vor Kurzem Mitglied der trotzkistischen Initiative Marx 21, einer vom Verfassungsschutz als linksextrem eingestuften Gruppe.
Mit Trotzki an die Macht? Für Twitter mag’s reichen, für das Bundeskabinett niemals.