Wenn die Tribüne zur Bühne und der Rasen zum Nebenkriegsschauplatz wird, läuft einiges schief im Fußball.

Fast eine Woche ist das Derby her – und noch immer sind viele braun-weiße Fans am Boden zerstört. Das mag mit der Fallhöhe zu tun haben, die Euphorie war groß, die Erwartung noch größer, am größten die Vorfreude. Manche kokettierten gar mit einem Wachwechsel in der Stadt – die Nummer eins, so träumten sie, sind wir, der Underdog, nicht die Millionarios aus St. Ellingen.

Allein, die Kiezkicker gingen 0:4 unter. Doch St. Pauli hat nicht nur ein Spiel verloren, schlimmer noch: Der Verein hat Sympathien verloren. Was sich während der rund 100 Minuten des Fußballspiels, davor, danach und mittendrin, auf den Rängen der Südtribüne zutrug, hatte man am Millerntor noch nicht gesehen. Und das will auch niemand mit Verstand noch einmal sehen.

Dutzende von Bengalos gingen in Flammen auf, Leuchtraketen wurden auf das Spielfeld und die eigenen Fans auf der Gegengerade abgefeuert und eine HSV-Fahne im Stadion verbrannt. Der Fußball wurde zur Nebensache, die Tribüne zur Bühne. Hier feierten sich „Fans“ und ihre seltsamen Männlichkeitsrituale selbst und brachten die eigenen Spieler mit ihrer Performance durcheinander.

Ein Riss geht durch das Stadion. Die Gegengerade feuerte nicht mehr die eigene Mannschaft an, sondern rief „Haut ab, haut ab“. Die Jungs auf der Südtribüne feuerten mit Leuchtraketen zurück. Es muss zur Ehrenrettung der Ultras, die schnell als Hauptschuldige ausgemacht wurden, gesagt werden, dass auch auf der Südtribüne viele Ultras gegen die rund 150 bis 200 Vollpfosten opponierten. Schon ihr Aufmarsch als Fußball-Autonome zeigte, wes Geistlosigkeits Kind sie sind: Mit Sturmhaube und in Vollschwarz ging es ihnen um alles, nur nicht um Fußball. Es mag sein, dass auch Hooligans von anderen Vereinen – so sollen Bayern-Ultras der Schickeria mittenmang gewesen sein – ihren ganz eigenen Derbyauftritt inszenierten. Das tröstet wenig: Das Problem hat nun der FC St. Pauli.

Die Werte dieses Clubs haben die Hools von der Südtribüne geschreddert. Toleranz, Selbstironie, Gewaltfreiheit, Fairplay – sie gingen auf den Tribünen unter wie die Mannschaft auf dem Rasen. „Die Fanschaft des FC St. Pauli, die sich seit jeher dafür rühmt, anders zu sein als anderswo, ist so anders dann leider doch nicht. Oder nicht mehr“, konstatiert die „Zeit“. Und das Abendblatt schrieb: „Der FC St. Pauli ist leider gar nicht mehr so anders.“

Besonders bitter ist das für das ehrenamtliche Präsidium, das sich seit jeher besonders den Fans verpflichtet fühlt. Es wurde vorgeführt. Nun muss es den Graben zuschütten, der sich tief zwischen der Südtribüne auf der einen und der Gegengerade wie der Haupttribüne auf der anderen Seite auftut.

Keiner wünscht sich britische Verhältnisse, in denen der Arenabesuch eher an die Elbphilharmonie als ans Stadion erinnert. Fußball ist rau, hier fließen Bier und Tränen, es riecht nach Angst und Schweiß, er ist ein Ort für höchste Gefühle und tiefste Verzweiflung. Und ja, auch ein brennendes Bengalo, das anderswo als südländische Begeisterung gefeiert wird, muss nicht die norddeutsche Nüchternheit empören. Aber alles hat seine Grenzen. Man darf einer durchgeknallten Minderheit nicht das Stadion überlassen – wohin das führen kann, zeigt unter ganz anderen Vorzeichen der Neonazi-Eklat der Chemnitzer Ultras.

Nicht nur der Fußball benötigt Regeln, sondern auch die Fans. Die Regellosigkeit ist gescheitert. Bislang galt das Prinzip Vertrauen gegen Vertrauen: Die Gruppe Ultra Sankt Pauli durfte bislang 2000 Karten individuell nach Gutdünken vergeben. Nach dem Vertrauensbruch vom Sonntag muss es mit dieser Besserstellung vorbei sein – zumal rund 13.000 Fans auf einer Warteliste für Dauerkarten stehen. Die Gewalttäter, die unbehelligt am Ruf des Vereins zündelten, müssen identifiziert und belangt werden. Mit Leuchtraketen um sich zu schießen, ist keine Leidenschaft, sondern versuchte Körperverletzung. Auch wir Medien müssen uns hinterfragen, wer die Bilder und Zeilen verdient: die große Mehrheit der vernünftigen Fans oder die paar Dutzend Selbstdarsteller?

Ein paar Gelbe und Rote Karten sind jetzt überfällig. Es müssen einige aus der Kurve fliegen, damit der Fußball nicht aus der Kurve fliegt.