Hamburg. Die Deutschen legen den nächsten 180-Grad-Schwenk hin – vom naiven Pazifismus zum naiven Bellizismus.
Es ist noch nicht lange her, da galt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick aus Halle als böser Militarist. Vor seiner Berufung 2013 hatten Studentenvertreter protestiert und betont, sie duldeten keinen Professor, der sich mit Sicherheitspolitik beschäftigt. Linke Aktivisten plakatierten sein Konterfei in der Stadt – als Montage mit Pickelhaube. Ausgerechnet auf Facebook richteten sie eine Seite ein, die sich ganz den „militaristischen Umtrieben“ des Professors für Internationale Beziehungen widmete.
Nun bekommt Varwick auch von der anderen Seite des politischen Spektrums kräftig Feuer. Die „Bild“-Zeitung, seit dem Überfall auf die Ukraine vom Kampf- zum Kriegsblatt mutiert, nahm sich jüngst den Wissenschaftler vor: Unter der Zeile „Über diese deutschen Experten freut sich Putin“ wurde Varwick angezählt. Sein Vergehen: Er sieht die Lieferung schwerer Waffen kritisch.
Die Wut über Putin bringt in Deutschland seltsame Koalitionen zusammen: Auch der Studierendenrat der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg fordert den Sicherheitsexperten und Berater des Auswärtigen Amtes „ausdrücklich dazu auf, in dieser Frage deutlich mehr Zurückhaltung walten zu lassen“. Martin Luther sagte vor dem Reichstag zu Worms: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Heute empfehlen die Studenten seiner Universität wie die „Bild“-Zeitung unmissverständlich: „Schnauze halten.“
Deutsche Medien übernehmen Meldungen schmerzbefreit
Von weit links bis nach weit rechts kennt man keine Parteien mehr, Zwischentöne sowieso nicht: Immer mehr und immer schwerere Waffen fordern Leute, denen gestern noch jeder Rüstungsexport suspekt war. Der grüne Politiker Anton Hofreiter und die liberale Marie-Agnes Strack-Zimmermann liefern sich ihren ganz persönlichen Rüstungswettlauf. In immer neuen Kommentaren erleben wir auf allen Kanälen eine Einigkeit, die verstummen lässt.
Schmerzbefreit übernehmen deutsche Medien Meldungen, wonach bei Cherson ukrainische Truppen „ein russisches Munitionslager und 70 Mann in den Reihen des Gegners vernichtet“ hätten, 70 Mann vernichtet. Fällt keinem mehr auf, dass auch auf russischer Seite junge Männer sterben, die sich ihr Leben anders vorgestellt haben, als im Krieg zerfetzt zu werden? Besonders gut klicken im Netz abgeschossene russische Hubschrauber oder Beiträge unter der Zeile „Lügen-Lawrow faselt vom Dritten Weltkrieg.“ Andere finden eine Wortwahl passend, die alle ukrainischen Soldaten zu Helden erklärt und Präsident Selenskyis Kampf als „heroisch“ feiert. 1914 lässt grüßen.
Wie schon in der Flüchtlingskrise oder der Pandemie reimen sich zu viele Texte, Berichte, Bilder und Sendungen. Anders klingende Stimmen, ja, schon Zwischentöne gehen im Kanonendonner unter. Es gibt plötzlich wieder Gut und Böse, dunkle und helle Mächte – und auch wenn die Kriegsschuld eindeutig aufseiten Putins liegt, ist die Welt etwas komplizierter als ein Pixi-Buch.
Die größten Kriegsgegner sind Generäle
Die Zahl der kritischen Stimmen in den Medien lässt sich bald an einer Hand abzählen: Der ehemalige General Erich Vad empört sich über die anschwellende Kriegsrhetorik. „Das machen Politiker, die mit Militär nichts am Hut haben! Die den Wehrdienst verweigert haben! Die von der Bundeswehr nichts wissen!“ Vad ist beileibe nicht der Einzige, der so denkt. Die größten Kriegsgegner sind heute Generäle. Viele Publizisten und Politiker hingegen sind mit fliegenden Fahnen aus dem Lager der naiven Pazifisten ins Lager der naiven Bellizisten übergelaufen.
Wer sich die Mühe macht, die Leserbriefseiten der großen Zeitungen zu wälzen, dem fällt auf, dass viele Bürger da nicht mehr mitgehen und die Lage deutlich differenzierter und besonnener sehen. In Medien war zu lesen, der Kanzler „zaudert“, „zögert“, „versteckt sich“, ja, „er verschanzt sich im Kanzleramt“. Bei Twitter wird melnykiös gepöbelt. Sie sind laut, aber sind sie die Mehrheit?
Natürlich geht es darum, aus Putins Aggression die richtigen Schlüsse zu ziehen, aber bitte keine Kurzschlüsse. Jeder möchte der Ukraine helfen. Aber auf jede Eskalation mit einer Gegeneskalation zu reagieren, könnte dramatisch schiefgehen. Es geht hier nicht um Appeasement, sondern um Vernunft. Varwick betonte nun im Deutschlandfunk, das Ende des Krieges sei nicht militärisch zu erreichen, denn Moskau habe die Eskalationsdominanz. Hört auf die Wissenschaft, hieß es in der Klima- wie der Corona-Krise. Gilt das jetzt nicht mehr?