Washington. „Title 42“,das wichtigste Instrument zur Eindämmung der Asylbewerber-Welle, wird voraussichtlich bald gekippt. Über die Zwickmühle.
Kennen Sie „Title 42“? Wenn nicht, empfehle ich einen näheren Blick auf das aus dem Zweiten Weltkrieg stammende US-Gesetz (gesprochen: „teitel“) zu werfen. Donald Trump ließ es März 2020 von Rechtsgelehrten entstauben, um an der Grenze zu Mexiko dem Ansturm von Asyl suchenden Armutsflüchtlingen aus Latein- und Mittelamerika irgendwie Herr zu werden. Dabei wurde die Corona-Pandemie zum Vorwand genommen – Infektionsgefahr!
Sein Nachfolger im Weißen Haus, Joe Biden, bezeichnete den juristischen Winkelzug, der die sofortige Abweisung von Asylbewerbern mit dem Hinweis aus gesundheitlichen Ansteckungsrisiken legitimiert, im Wahlkampf 2020 als „menschenfeindlich“. Tenor: dringend abschaffen.
„Title 42“ wirksamstes Instrument zur Abschottung
Die realen Verhältnisse sind über dieses Petitum hinweggegangen. Zwei Jahre später ist „Title 42“ immer noch das wirksamste (und nach Meinung von Kritikern verlogenste) Instrument zur Abschottung in der amerikanischen Einwanderungspolitik. Es wird benutzt, um eine Überfüllung der Migrantenunterkünfte entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze zu verhindern. Alle Beteiligten wissen insgeheim, dass hier die Corona-Infektionsgefahr vorgeschoben wird, um das Asylrecht auszuhebeln.
Ein Beamter des Heimatschutzministeriums in Washington, der just zum Anschauungsunterricht an der Grenze war und „erschüttert“ zurückkehrte, sagt es im Gespräch mit dieser Zeitung so: „Um Schlimmeres zu verhüten, muss man manchmal Schlimmes machen.“ Schlimmeres, das wäre für die Biden-Regierung im Kongress-Zwischenwahljahr 2022 und einer bei der Inneren Sicherheit lautstarken republikanischen Opposition ein erneuter Anstieg der Zahlen, die schon jetzt historische Höchststände markieren.
Menschenwürdige Asylpolitik gefordert
Unter Donald Trump wurde via „Title 42“ 400.000 Menschen bei Erreichen der Grenze das Stellen ihres Asylgesuchs verwehrt. Sie landeten nach dem Aufgreifen am Rio Grande wieder in Mexiko, einige wurden per Flugzeug deportiert. Unter Joe Biden, der vor allem getrieben vom progressiven, einwanderungsfreundlicheren Flügel der Demokratischen Partei eine humanitäre Lösung versprochen hatte, waren es seit Amtsantritt Ende Januar 2021 rund 1,3 Millionen.
Flüchtlingsorganisationen und linke Demokraten sind seit Monaten entsprechend auf der Zinne. Weil die Seuchenschutzbehörde CDC, die das latent milder werdende Corona-Gefahren-Szenario alle sechs Wochen neu einzuschätzen hat, voraussichtlich im April „Title 42“ einkassieren wird, drängen sie auf eine menschenwürdige Asylpolitik. „Das Weiße Haus muss endlich einen fairen Modus finden, um den Bewerberzahlen gerecht zu werden“, sagen die Wortführer.
Bidens Bilanz könnte verschattet werden
Aber hier herrscht bisher Fehlanzeige. Mit großem Unwohlsein im Bauch gehen die Grenzschutzbehörde „Customs and Border Patrol“ und das Heimatschutzministerium davon aus, dass binnen weniger Tage nach Wegfall von „Title 42“ rund 200.000 Menschen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Venezuela, Haiti und anderen Fluchtländern an den jeweiligen Grenzposten zwischen Tijuana und McAllen anklopfen, die zurzeit in Mexiko auf gepackten Koffern sitzen.
Zuströme von monatlich 150.000 Menschen, die mit Beginn des Frühjahrs erwartet werden, würden Bidens innenpolitische Bilanz nachhaltig verschatten. Republikanische Kongresskandidaten in den grenznahen Südstaaten sehen Amerika überrannt von illegalen Einwanderern und machen mit Fallbeispielen von Kriminalität fremdenfeindlich grundierte Stimmung. Auf der anderen Seite können linke Demokraten es nicht verzeihen, dass Biden die verhasste Grenzpolitik Trumps fast eins zu eins fortführt.
Biden ist in einer Zwickmühle
Übel genommen wird in Bidens Partei auch, dass die Ansage, endlich die tieferen Migrationsursachen in Mittel – und Lateinamerika (Armut, Drogen, Gewalt, Gang-Kriminalität) zu bekämpfen, offenbar wieder nur ein Lippenbekenntnis war. Von Vizepräsidentin Kamala Harris, die mit dieser heiklen Aufgabe betraut ist, hat man jedenfalls seit Wochen nichts Substanzielles mehr gehört.
Biden ist in der Zwickmühle. Egal, in welche Richtung er sich bewegt, eine Seite wird immer aufschreien. Mitch McConnell, der mächtigste Republikaner im Senat, hat bereits einen Vorgeschmack gegeben, was dem Präsidenten rein agitationsmäßig droht, sollte er „Title 42“ ausmustern. Heute sei die Lage an der Grenze „reines Chaos“, so McConnell. Bei Wegfall der Einschränkung komme es zum „totalen Zusammenbruch“.