Hamburg. Das Smartphone ist immer und überall dabei. Haben wir verlernt, mal mit unseren Gedanken alleine zu sein?
Als Kind habe ich es geliebt, beim Bahnfahren aus dem Fenster zu schauen. Wenn wir in den Urlaub fuhren, hielten mein Vater und ich Ausschau nach Rehen, die sich auf Feldern im hohen Gras versteckten. Die Welt da draußen habe ich ganz bewusst beobachtet: wie sich Landschaften veränderten und Richtung Süden immer hügeliger wurden. Wie sich kleine Dörfer mit dicht besiedelten Städten abwechselten. Und Menschen hektisch ihre Koffer über Bahnsteige rollten.
Als ich älter wurde, hörte ich während der Fahrt Musik mit meinem MP3-Player – sah aber immer noch verträumt aus dem Fenster. Dann trat das Smartphone in mein Leben – und mein Blick senkte sich.
Handy während Bahnfahrten immer präsent
Zugfahrten verloren ihre Magie und wurden zu etwas Alltäglichem für mich. Jeden Tag nutzte ich die U-Bahn, um zur Uni zu fahren, später zur Arbeit. Inzwischen lese ich Bücher während der Fahrt, höre Musik – die meiste Zeit beschäftige ich mich mit meinem Handy.
Neulich habe ich meine Kopfhörer zu Hause vergessen. Es war seltsam still um mich herum. Ich nahm mir vor, auch mein Smartphone in der Tasche zu lassen und mal wieder meine Umgebung auf der Strecke zum Büro zu beobachten. So wie früher. Doch was ich damals so gerne mochte, fällt mir heute nicht leicht. Einfach in der Bahn zu sitzen und nichts zu tun. Warten, bis ich an meinem Ziel ankomme. Ich schaute rüber zu meinen Mitreisenden im Wagen. Bis auf eine Frau starrten alle auf ihr Handy.
Leerlauf soll mit aller Kraft vermieden werden
Schon seit Jahren ist das ein gewohnter Anblick. Mit gesenktem Kopf irren Menschen über Gehwege und nehmen das Klingeln vorbeifahrender Fahrräder kaum noch wahr. Mit dem Smartphone vertreiben sich viele die Wartezeit im Restaurant, während ihre Begleitung kurz auf der Toilette verschwunden ist. Einen Leerlauf wollen sie mit aller Kraft vermeiden. Besteht die Gefahr, es könnte Langeweile aufkommen, lassen sie sich digital berieseln. Leider kann ich gut nachvollziehen, wie schwer es fällt, seinem Kopf eine Pause zu schenken.
Morgens nutze ich den fünfminütigen Weg zum Bäcker gerne, um WhatsApp-Nachrichten, die sich angestaut haben, zu beantworten. Auf Sprachmitteilungen ist häufig das Knistern meiner Brötchentüte zu hören. Während ich vor der eigentlichen Arbeit mein privates Postfach aufräume, merke ich gar nicht, was um mich herum passiert. Lasse ich dagegen mein Handy in der Wohnung liegen, fällt mir auf, was für schöne Hortensien der Blumenverkäufer vor seinem Laden aufgebaut hat und wie viel Spaß die Kita-Kinder beim Klettern auf dem Gerüst haben.
Warum können wir Ruhe nicht ertragen?
Beim Fertigmachen im Bad läuft oft Musik. Wenn ich alleine koche oder das Geschirr abwasche, höre ich mir gerne meinen Lieblings-True-Crime-Podcast „Mord auf Ex“ an. Abends falle ich erschöpft aufs Sofa und schalte eine Serie bei Netflix ein. Ständig lasse ich mich von Medien beschallen. Haben wir es verlernt, einfach mal mit uns und unseren Gedanken alleine zu sein? Wann haben Sie das letzte Mal aus dem Fenster geschaut – oder an die weiße Decke gestarrt? Warum sehnen wir uns an stressigen Tagen so sehr nach Ruhe – können sie in Wahrheit aber gar nicht ertragen?
Weil ich zurzeit ziemlich unter Strom stehe, schickte mir eine liebe Kollegin vor zwei Tagen ein Foto mit einer wichtigen Erinnerung. Darauf war ein Strand mit einem Schild zu sehen, auf dem stand: „Du solltest jeden Tag 20 Minuten in der Natur sein. Es sei denn, du bist sehr beschäftigt, dann solltest du eine Stunde in der Natur sein.“ Neulich war ich sechs Stunden in Bayern wandern – vom Gipfel des Heimgartens über einen Grat zum Herzogstand. Die gesamte Zeit über rührte ich mein Handy im Rucksack nicht an, genoss die atemberaubende Natur und hörte außer einem „Servus“ von anderen Wanderern nur Vogelgezwitscher. Herrlich. Das war Urlaub für den Kopf.
Verschnaufpausen sind wichtig
Diese kleinen Verschnaufpausen sind wichtig für die Gesundheit des Menschen. Besonders nötig haben sie diejenigen, die wie auf Autopilot geschaltet durchs Leben hetzen und ihre Umwelt gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Einfach mal nichts tun ist keine vergeudete Zeit – sondern Regeneration für den Körper, um wieder produktiv sein zu können.
Auf dem Weg zur Arbeit werde ich definitiv wieder öfter aus dem Fenster starren.